Seit Tagen steht Russlands Ferner Osten unter Wasser: Der Fluss Amur ist nach heftigen Regenfällen über die Ufer getreten und zerstört Dörfer und Felder. Es ist das stärkste Hochwasser seit Beginn der Wetteraufzeichnungen - und das Wasser steigt weiter.

Hochwasser, Überschwemmung, Flut
© RIA NovostiRusslands Ferner Osten ist vom stärksten Hochwasser seit Beginn der Aufzeichnungen betroffen.
Der russische Ferne Osten wurde von einem beispiellosen Hochwasser heimgesucht. Solche Ausmaße kennen weder die alten Bewohner dieser Region noch historische Chroniken. Betroffen ist von dieser Katastrophe ein Gebiet von einer Million Quadratkilometern, das entspricht etwa der Fläche von Frankreich und Spanien zusammen. Die Bilder aus den Krisenregionen ändern sich stündlich - bislang nur zum Schlechten. Die tropischen Regenfälle kommen nicht zum Stillstand und weitere Wassermassen vom Amur-Zufluss Sungari rücken unaufhaltsam näher.

Nach Einschätzung der Behörden müssten im schlimmsten Fall bis zu 100 000 Menschen aus den überfluteten Städten und Dörfern evakuiert werden. Bereits jetzt haben über 21 000 Bewohner der Hochwasserregionen ihre Häuser verlassen.

Aus Furcht vor Plünderern wollen manche Einwohner bleiben

Einer von ihnen ist der Rentner Alexander Ljowin aus dem kleinen Dorf Kukelewo im Jüdischen Autonomen Gebiet. Obwohl sein Haus bereits unter Wasser stand und er sich selbst nur mit Mühe fortbewegen konnte, lehnte der Rentner sämtliche Empfehlungen, das untergehende Dorf zu verlassen, rigoros ab. Schließlich schickte man den Katastrophenschutz zu ihm, und der Brandschutzinspektor des Rajons, Lenin Nikolaj Kolesnikow, trug den widerspenstigen Dorfbewohner eigenhändig aus dem Gefahrengebiet hinaus.

Die Behörden stellten für eine vorübergehende Unterbringung der Flutopfer Schul- und Universitätsgebäude zur Verfügung. In Sporthallen übernachten Hunderte Matrosen in engen Reihen. Es gibt mobile Banjas und Backöfen, und in den Evakuierungszentren werden die Opfer versorgt sowie ärztlich und psychologisch betreut.

Zuwendung und Trost sind nötig, denn viele haben Haus und Hof verloren - so wie Swetlana Filippowna. „Alles ist zerstört, das Haus, der Garten", erzählt sie und weint. „Wir haben bereits die erste Hilfszahlung von 226 Euro erhalten. Man hat uns noch mehr versprochen: Unserer Familie soll insgesamt 9 035 Euro ausgezahlt werden. Ein neues Haus werden wir uns mit diesem Geld aber nicht bauen können. Und in ein bis zwei Monaten wird es kalt."

Manche verzweifelten Einwohner der Hochwasserregionen weigern sich deshalb standhaft, ihre bereits vollkommen überfluteten Dörfer zu verlassen. Sie flüchten sich in die oberen Etagen oder auf die Dachböden ihrer Häuser und versuchen, ihr noch nicht weggeschwemmtes Hab und Gut vor Plünderern zu schützen. In dem bis zu den Dächern überfluteten Dorf Wladimirowka im Gebiet Amur ist eine standhafte Babuschka zurückgeblieben. Sie lehnt es kategorisch ab, sich evakuieren zu lassen und betont, so etwas noch nicht erlebt zu haben. Wer sich an ihrem fast gänzlich unter Wasser stehenden Haus vergreifen will, den verjagt die alte Frau mit einer Leuchtpistole.

Eines der wichtigsten Soja-Anbaugebiete Russlands ist zerstört

Das Wasser hat auch die Aussichten auf eine Ernte weggespült. Von der Flutkatastrophe betroffen sind die wichtigsten landwirtschaftlichen Regionen des Föderationskreises Ferner Osten. Vom Hubschrauber aus bietet sich ein schauriger Anblick. Nur an manchen Stellen heben sich aus der braungrauen Ebene vereinzelte Reihen Soja oder kleine Inseln ab, die ein Weizenfeld erahnen lassen. Sonst sieht man nur Wasser, soweit das Auge reicht. Die Äußere Mandschurai ist Russlands wichtigstes Soja-Anbaugebiet. Über die Hälfte der russischen Sojaernte kommt aus dieser Region. Die Flut hat von der Ernte nichts zurückgelassen.

Im Amur verschwindet eine Insel nach der anderen unter dem Wasser. Dieses Schicksal ereilt gerade auch die Insel Heixiazi Dao. Ein Teil von ihr gehört zu China, ein anderer ist russisches Staatsgebiet. Beide Teile sind von der Stromversorgung abgeschnitten, fast alle Bewohner wurden evakuiert, nur ein paar Grenzsoldaten sind noch im Dienst. Einige Bezirke der chinesischen Provinz Heilongijang sind ebenfalls von Überschwemmungen extremen Ausmaßes betroffen. Die Fluten rissen bereits über 200 Menschen in den Tod. Auf russischer Seite sind bislang keine Todesopfer zu beklagen.

Die Evakuierung und Rettung der Flutopfer laufen auf Hochtouren. Der Ferne Osten wird jeden Tag von Transportflugzeugen angeflogen. Sie liefern mobile Krankenhäuser, Material zum Dammbau, Lebensmittel und Medikamente. Hunderte Tonnen Impfstoffe erreichten die Katastrophengebiete. Die Einwohner der betroffenen Regionen werden gegen Hepatitis A und Ruhr geimpft. 13 000 Helfer sind in den Flutgebieten im Einsatz. Sie wurden aus ganz Russland hierhergebracht.

Der Pegelstand übersteigt bisherige Höchstmarken mit Leichtigkeit

In der Hauptstadt des Fernen Ostens Chabarowsk bereitet man sich zurzeit noch auf das „große Wasser" vor. Beim bisher schlimmsten Hochwasser der Geschichte, das Ende des 19. Jahrhunderts verzeichnet wurde, erreichte das Wasser einen Pegelstand von 6,20 Meter. Derzeit nähert sich der Wasserstand bereits deutlich der Marke von sieben Metern - und das Wasser steigt weiter: Für die kommende Woche erwarten Experten gar einen Pegelstand von acht Metern.

Die Stadt, die sich über 50 Kilometer am Flussufer hinzieht, ist von Dämmen geschützt. Sie werden rund um die Uhr befestigt und aufgestockt. Auf der Uferpromenade errichten zudem Arbeiter, Soldaten und freiwillige Helfer mit Tausenden Sandsäcken einen weiteren Damm. Ein japanischer Unternehmer beteiligt sich am Dammbau und schleppt gemeinsam mit den Einwohnern von Chabarowsk Sandsäcke. „Ich bin hier auf einer Dienstreise", erklärt der Japaner. „Ich sehe, was dieser schönen Stadt droht, ich kann dem nicht tatenlos zusehen."

Der Fluss aber bricht durch, er tritt über den Sandsack-Damm, der gerade noch gebaut wird, manche Straßen von Chabarowsk sind von den Wellen schon überspült, das Wasser steht bereits vor einigen Häusern. Die ersten Evakuierungen haben begonnen.


Wird die natürliche Grenze zwischen China und Russland neu gezogen?

Was sich für die Bevölkerung als Katastrophe darstellt, ist für den Amur der normale Lauf der Dinge. „Was wir heute erleben, ist Teil des natürlichen Rhythmus des Amur, dem sich auch seine Niederung, das Flusstal und alles Leben in ihm angepasst haben", sagt Alexej Machinow, Geograf und stellvertretender wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Hydrologie an der Russischen Akademie für Wissenschaften des Fernen Ostens.

„Solche großen Wassermassen verändern allerdings natürlich das Flussbett. Wenn das Wasser sich seinen Weg in die linken Arme des Flusses im Mittleren Amur bahnt, dann könnte das die Grenze zwischen Russland und China verschieben, denn diese folgt dem Wasserlauf", so der Wissenschaftler.