In der Wiener Boje werden traumatisierte Kinder behandelt - Ihre Therapeuten haben sich der Individualpsychologie von Alfred Adler verschrieben

Traumata, Depression, Angststörung
© cfalk/pixelio.deUnbehandelte Traumata erhöhen die Wahrscheinlichkeit an Depressionen oder Angststörungen zu erkranken.
Zwischen Malefiz, Dinosauriern und mittelalterlichen Ritterburgen kommen oft sehr tragische Geschichten ans Tageslicht. In der Boje, einem Wiener Ambulatorium für Kinder und Jugendliche, schauen die Therapieräume wie Kindergärten aus. "Auch Feuerwehrautos und Puppenhäuser dürfen in keinem Zimmer fehlen", sagt Regina Rüsch und deutet auf eine Ecke des Raums, in der sich Spielzeugkisten stapeln. Die Geschäftsführerin der Boje weiß, dass viele Kinder bloß im Spielerischen ausdrücken können, was ihnen wiederfahren ist.

Manchmal ist das Erfahrene derart traumatisierend, dass die Kinder es so sehr verdrängt haben, dass sie selbst nicht mehr genau wissen, was passiert ist. Ein kleines Mädchen etwa, das bei Rüsch in Behandlung war, spielte immer wieder Tierbegräbnisse nach - mit Zebras, Elefanten und Giraffen. Nach und nach kristallisierte sich heraus: Mit dem toten Zebra meinte sie ihre Mutter. Diese war vom eigenen Vater umgebracht worden. " Da muss man gut überlegen, wann man die Achse zum Eigenen führt", sagt Rüsch. Das Erfahrene genau zu benennen ist die Grundlage für die weitere Therapie.

Große Herausforderungen

Mehr als ein Drittel der Kinder in der Boje haben Eltern- oder Geschwisterteile verloren - durch Suizid, Unfall, Mord oder Krankheit. Andere wurden missbraucht oder haben eine traumatische Flucht hinter sich. In letzter Zeit geben Eltern ihre Kinder auch vermehrt präventiv in Behandlung, wenn etwa ein naher Angehöriger schwer an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange zu leben hat.

Vor große Herausforderungen stellen Regina Rüsch auch problematische Scheidungsfälle. Waren die Eltern vormals schützender Halt, muss die Therapeutin das Kind im Extremfall vor den eigenen Eltern schützen. Wenn diese etwa versuchen, es gegenseitig auszuspielen - oder Äußerungen aus Therapiesitzungen ungefragt dem Scheidungsrichter vorlegen, um für die eigene Fürsorgepflicht zu argumentieren.

Seit mehr als zehn Jahren setzt die Boje an, wo die Akutbetreuung der Stadt Wien aufhört. Nach der dortigen 24-Stunden-Behandlung können traumatisierte Kinder und Jugendliche an die Boje verwiesen werden, insgesamt zwei Drittel aller Patienten kommen über Betreuungseinrichtungen. In knapp elf Jahren wurden so rund 8000 Patienten von einem mittlerweile fast dreißigköpfigen Team aus Therapeuten und Sozialarbeitern behandelt, im Schnitt für je zehn Stunden, und das kostenlos. Bis achtzehn können Kinder die Boje in Anspruch nehmen.

Psyche als Basis

Dieser niederschwellige Ansatz steht ganz im Sinne Alfred Adlers, dessen Lehre sich die Boje verschrieben hat. Als Lehrer noch mit Rohrstock und militärischem Drill erzogen haben, gründete Adler in Wien individualpsychologische Volksschulen, in denen Schüler im Sesselkreis über ihre Probleme sprechen konnten - eine Pionierarbeit. Selbst heute, 90 Jahre später, verfügen nur die wenigsten Schulen in Österreich über eine ausreichende psychologische Betreuung. Auch das neue Lehrerausbildungsgesetz sieht keine psychologische Grundbildung für Pädagogen vor.

Adler hat sich in seinem Werk der Prophylaxe gewidmet: Je früher man mit der psychologischen Betreuung ansetzt, desto mehr Potenziale werde das Individuum ausschöpfen können. In der Boje war der jüngste Patient ein sechsmonatiger Säugling, dessen Vater am Vortag gestorben war.

Vernarbung statt Heilung

Doch inwieweit kann eine seelische Wunde verheilen? "Wenn sie gut behandelt wird, vernarbt sie. Verschwinden wird ein Trauma nie", sagt Christine Koska, ärztliche Leiterin der Boje. Bleiben Traumata unbehandelt, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Folgeerkrankung, die von somatischen Störungen bis hin zu Depression und Angststörung reichen kann.

Oft bedarf es kleiner Gesten, die das Kind beim Verarbeiten traumatischer Erlebnisse unterstützen. Vielen Eltern rät Rüsch, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: fünf Minuten am Tag mit dem Kind zu kuscheln, zuzuhören und zu reden. Als Antwort hört sie immer wieder, dass dafür keine Zeit sei: "Einfach nur da sein - das muss man oft anordnen, es ist selten geworden."



Wissen

Leben und Werk von Alfred Adler Der Wiener Psychotherapeut begründete in den Zehnerjahren des 20. Jahrhundert die Individualpsychologie, nachdem er als Schüler Freuds 1911 mit diesem gebrochen hatte. Ihre Theorien hatten sich nicht zuletzt deshalb unüberbrückbar voneinander entfernt, weil sie in unterschiedlichen Milieus tätig waren: Während Freud die Akademiker und Aristokraten behandelte, die sich ihre sexuellen Probleme "leisten" konnten, kam in Adlers Praxis unweit des Praters ein ganz anderer Menschenschlag.

Er erlebte in seiner Praxis, wie sehr einfache Leute unter den Machtverhältnissen litten, weil sie "nichts zu sagen hatten". "Das Erleben von Ohnmacht und die damit verbundene Kränkung des Selbstwertgefühls ist zentral in Adlers Lehre", so Margot Matschiner- Zollner, Leiterin des Vereins für Individualpsychologie. Im Mai hat ihr Verein in einem Nebenhaus der Boje das Alfred-Adler-Center als Diskussionsforum eröffnet.

Adler musste 1934 in die USA emigrieren. Er starb 1937 während einer Forschungsreise in Schottland.