Atommeiler
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Präsident Obama lässt alle US-Kernkraftwerke überprüfen - doch von einem Ausstieg wie in Deutschland spricht kaum ein Politiker, selbst die Medien halten das Thema klein. Hinter den Kulissen wirkt eine mächtige Pro-Atom-Lobby, die aufs Engste vernetzt ist mit dem Regierungsapparat in Washington.

Als Nobelpreisträger für Physik ist Steven Chu selten um eine Antwort verlegen. Doch in diesem Moment wand er sich sichtlich. Ob die US-Regierung nach der Katastrophe in Japan denn weiter zur Kernenergie stehe, wollte der Republikaner Joe Barton von dem Energieminister wissen. Chu wich umständlich aus: "Wir müssen die Lehren ziehen, die aus dem, was in Japan geschieht, gezogen werden können."

Die von Barton erwünschte Replik war ein schlichtes Ja oder Nein, doch Chu versuchte, sich mit einem umständlichen Satzkonstrukt aus der Affäre zu ziehen: "Es ist verfrüht, irgendetwas zu sagen, außer dass wir diese Gelegenheit so gut wie möglich nutzen werden, um daraus zu lernen."

Der Tea-Party-Politiker Barton - einer der größten Freunde der Energiebranche im Kongress - war nicht zufrieden. "Ich bin nicht sicher, was Sie da gerade gesagt haben", bohrte er nach. "Befürwortet der Präsident neue Atomkraftwerke in den USA?" Chu eierte weiter herum. Barton: "Das ist also ein Ja?" Schließlich gab Chu auf: "Das ist ein Ja." Barton lehnte sich zufrieden zurück.

Dieser kuriose Dialog entspann sich am Mittwoch bei einer Anhörung des Energieausschusses im US-Repräsentantenhaus. Im Zeugenstand saßen Chu und Greg Jaczko, der Chef der US-Atomaufsichtsbehörde NRC. Vor allem Jaczko schlug Alarm, sprach von potentiell "tödlicher" Strahlung im japanischen AKW Fukushima.

Die Amerikaner kaufen Jodtabletten

Eine Abkehr von der Kernkraft - wie etwa in Deutschland - komme jedoch nicht in Frage, versicherte der Atomschützer: "Die US-Nuklearanlagen sind sicher."

In der ersten Reihe hinter den Zeugen wachte ein bebrillter Herr akribisch über jedes Wort. Sein Name: Alex Flint. Sein Job: Top-Lobbyist für das Nuclear Energy Institute (NEI) - die politisch mächtige, weit vernetzte US-Atomlobby.

Die Szene im Sitzungssaal 2123 des Rayburn House Office Building offenbarte auf einen Blick, weshalb sich die USA auch heute nicht von der Kernenergie abwenden werden - trotz Japan, trotz Fukushima, trotz globaler Atom-Hysterie.

Sicher, Panik macht sich auch in den Vereinigten Staaten breit. Die Amerikaner kaufen Jodtabletten, als drohe ein Atomangriff, die TV-Sender zeigen Karten, auf denen Strahlenwolken auf die Westküste zudriften. In US-Umfragen hat die Atomkraft an Popularität eingebüßt, Gegner und Befürworter halten sich nun die Waage.

Am Donnerstag stellte sich US-Präsident Barack Obama in den Rosengarten des Weißen Hauses und versicherte: "Unsere Atomkraftwerke wurden einer erschöpfenden Untersuchung unterzogen und in jeglichen extremen Eventualitäten für sicher erklärt." Trotzdem habe er die NRC angewiesen, die Sicherheit aller AKW erneut "umfassend zu prüfen".

Prüfung? Ja. Ausstieg? Nein.

"In den USA ticken die Uhren ganz anders", sagt Arne Jungjohann, der US-Umweltdirektor der Heinrich-Böll-Stiftung. "Als Europäer in Washington reibt man sich die Augen."

"Viele Ressourcen und Cash"

Die USA beziehen 20,2 Prozent ihres Stroms aus Kernkraft. Zwei Dutzend der 104 AKW in den USA haben das gleiche Design wie Fukushima. Dennoch ist die US-Atomindustrie politisch viel stärker verankert als zum Beispiel in Deutschland.

Seit vielen Jahren versorgt die Branche beide Parteien mit Millionen Dollar an Wahlkampfspenden und verklärt zugleich in irreführenden Werbekampagnen die Atomkraft zur einzigen Lösung der Klimakrise. Die Gegenstimmen bleiben leise, die Medien halten sich zurück, und die Anti-Atomkraft-Bewegung kümmert dahin.

Was steckt hinter dem "Atomkraftwahnsinn" Amerikas, wie ihn der Medienkritiker Norman Solomon in der "Huffington Post" nennt? Auf den ersten Blick: knallharte Realpolitik. Auf den zweiten Blick: Geld, Gier und Macht.

"Wir haben der Wiederauferstehung der Atomindustrie in diesem Land den Weg bereitet", pries der Texaner Barton - noch vor der Katastrophe in Japan - die gute Zusammenarbeit der Branche mit der Politik. "Es ist Zeit, aus dem Winterschlaf zu erwachen."

Die wahren Motive zeigen sich beim Nachforschen: Barton bekommt von der Atomindustrie mehr Geld als sonst ein US-Politiker - bisher 1,4 Millionen Dollar. Dicht dahinter auf Platz zwei: der Demokrat John Dingell (1,3 Millionen Dollar).

Und der Einfluss der US-Atombranche auf Kongress und Weißes Haus ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, finanziell wie politisch. "Diese Konzerne haben viele Ressourcen und Cash für diesen Kampf", sagt Dave Levinthal auf der Website "Politico". Levinthal arbeitet für das Center for Responsive Politics, das US-Wahlkampfspenden dokumentiert.

Ganz vorne an der Front steht der Branchenverband NEI. Seit 2005 hat er 9,53 Millionen Dollar an Kongressabgeordnete überwiesen. Die zuletzt höchste Jahressumme floss im Präsidentschaftswahlkampf 2008 (2,36 Millionen Dollar), im Wahljahr 2010 waren es 1,69 Millionen Dollar. Prompt erklärten am Tag nach der Wahl sowohl Obama als auch der neue Sprecher des Repräsentantenhauses, John Boehner, dass sie sich bei der Atomkraft so einig seien wie sonst in kaum einem Punkt.

Dicke Schecks an den Kongress

Das NEI vertritt nicht nur die AKW-Betreiber, sondern auch alle anderen, die von der Atomkraft profitieren: Uranbergbauer, Atommüllentsorger, Brennstoffversorger, Nuklearmediziner, Ingenieure, Universitäten, Labore. Im Namen der fast 350 NEI-Mitglieder tingeln die Lobbyisten durch Washington und die US-Medien, um "die Unterstützung der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsträger für die Atomenergie zu stärken".

Als Aushängeschilder hat das NEI Christie Whitman gewonnen, die Ex-Chefin des Umweltamts EPA und frühere Gouverneurin von New Jersey, sowie Patrick Moore, ein einstiges Greenpeace-Gründungsmitglied.

Umweltschützer kritisieren die PR-Aktionen des NEI seit langem als bewusst verzerrend. "Grünwaschen" nennt Greenpeace die NEI-Behauptung, Atomkraft sei sauber und sicher - in Anspielung auf "whitewashing", Englisch für Schönrederei.

Die großen US-Atomkonzerne tun das Ihre, um im ewigen Wettkampf mit der Kohleindustrie die Nase vorne zu haben. Darunter: Duke Energy (Lobby-Ausgaben 2010: 6,5 Millionen Dollar), Entergy (4,6 Millionen Dollar), Exelon (3,7 Millionen Dollar) und Florida Power & Light (1,2 Milionen Dollar). Hinzu kommen auch hier Schecks an die maßgeblichen Politiker beider Parteien im Kongress.

Top Ten der besonders erdbebengefährdeten AKW

Die Renaissance der US-Atomindustrie wird unter den Eindrücken aus Japan also allenfalls langsamer vorangehen, aber nicht enden. Obamas Versprechen, der Branche 36 Milliarden Dollar Kreditgarantien für den Bau neuer Kraftwerke zu gewähren, steht.

Die Anti-Atomkraft-Bewegung hingegen, die in den siebziger Jahren nach Skandalen und Unfällen kurz aufblühte, ist verkümmert. Auch die meisten etablierten US-Medien haben die Atomkraft längst als den Status quo akzeptiert. Die "New York Times" bezeichnet die Kernenergie selbst nach Japan als "ein Mittel, um die Erderwärmung abzufangen" - nur müsse man jetzt dafür sorgen, dass die AKW "stark genug" seien, um Naturkatastrophen zu widerstehen.

Das zwiespältige Verhältnis der USA zur Atomindustrie hat Geschichte. Die Nation, die als erste eine Atombombe zündete, schwankt seit jeher zwischen Schuld, Panik und Verleugnung.

Schon 1953 beschwor Präsident Dwight Eisenhower in einer Rede vor der Uno-Vollversammlung "die Entschlossenheit" der USA, "das bange atomare Dilemma zu lösen". Die Nation werde "ihr ganzes Herz und ihren Verstand" darauf verwenden, "Wege zu finden, damit die wundersame Erfindungsgabe des Menschen nicht seinem Tod gewidmet, sondern seinem Leben geweiht werden soll".

Diese Schizophrenie zeigt sich auch jetzt wieder. So veröffentlichte die NRC gerade eine "Top Ten"-Liste jener AKW, die einer besonders hohen Erdbebengefahr ausgesetzt seien. Nummer eins: der Meiler Indian Point nördlich von New York - ausgerechnet jene Anlage, in deren Umfeld die meisten Menschen leben. Auf Platz zehn: das AKW Three Mile Island bei Harrisburg, das 1979 havarierte.

Den Aufstieg der US-Atombranche konnte der Unfall nicht stoppen.