Wird die Evolution weitergehen? Und was ist ihr Ziel? Lange glaubten wir, wir seien so optimal gelungen, dass es an uns nichts mehr zu verbessern gebe. Ein Irrtum.

Wer Stephen Wiltshire in einem der zahlreichen YouTube-Videos zusieht, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wiltshire kann über Stunden hinweg Luftaufnahmen von Großstädten zeichnen, über die man ihn zuvor mit einem Helikopter geflogen hat. Jede Perspektive, jede Kante eines Gebäudes bildet er akribisch und detailverliebt ab, akkurat wie eine Kamera. Der 39-jährige Brite ist ein Autist mit einer sogenannten Inselbegabung. Wiltshire verfügt über ein fotografisches Gedächtnis - er ist ein Savant.

Während Mediziner in den Inselbegabungen Symptome einer Entwicklungs- störung sehen, mutmaßen Futuristen wie Juan Henriquez, CEO der Investmentfirma Bioteconomy, solche Savants könnten eine neue Stufe der menschlichen Evolution einläuten. Einen Homo sapiens mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, neben dem wir anderen eines Tages antiquiert aussehen.

Ein tollkühne These, sicher. Aber auch bemerkenswert: Sie zeigt, dass seit einigen Jahren das Selbstbild des Menschen ins Wanken gerät. Der wähnte sich im 20. Jahrhundert als Krone der Schöpfung, als Endpunkt der Evolution. Es galt als ausgemacht, dass unsere Spezies sieben, acht Millionen Jahre nach ihrer Abspaltung von den Schimpansen einen stabilen Zustand erreicht habe, in dem sie sich biologisch nicht mehr verändere. Die Evolution habe sich auf die Kultur verlagert.

Dann kam das Human Genome Project, das im Jahre 2000 das erste komplett sequenzierte Genom veröffentlichte. Seitdem sind Tausende weitere Genome hinzugekommen, sogar die DNA des Neandertalers wurde entziffert. Die Daten zeigen: Der Homo sapiens ist, biologisch gesehen, noch nicht fertig.

Die DNA beschreibt den Bauplan jedes Lebewesens. Genetiker und Anthropologen haben nun damit begonnen, in der DNA-Sequenz wie in einem Geschichtsbuch zu lesen. Mit Computermodellen verfolgen sie, wie bestimmte Gene in verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Welt variieren. Denn nicht jedes Gen hat immer nur eine einzige Abfolge der vier chemischen DNA-Grundbausteine A, T, G und C. Zum Beispiel kann ein Gen manchmal sowohl mit A als auch mit C geschrieben sein. Genetiker nennen die Stellen, an denen dies möglich ist, SNP, gesprochen "Snip". Solche Varianten eines Gens, die dieselbe Funktion in der Zelle korrekt erfüllen, heißen Allele. Menschen in Shanghai, Berlin, Nairobi oder Bogotá können verschiedene, gleichwertige Allele haben und damit gut leben.

Wenn man weiß, wie man die SNPs und die Allele zu lesen hat, kann man daraus eine Menge Informationen gewinnen: auf welchen Routen der Homo sapiens nach seinem Auszug aus Afrika vor knapp 200.000 Jahren auf andere Kontinente zog, welche Epidemien er dabei überlebte, wie sich sein Körper an ungewohnte Landschaften mit ganz anderem Klima anpasste. In der natürlichen Selektion, dem wichtigsten Mechanismus der Evolution, wurden in verschiedenen Weltgegenden unterschiedliche Genvarianten weitervererbt, weil sie sich als vorteilhaft erwiesen.

In den letzten 5.000 Jahren beschleunigte sich die Vielfalt in der DNA

Bei den frühen Menschen, die Afrika zunächst nach Norden verließen, verbreitete sich etwa eine Genvariation, die eine andere Hautfarbe begünstigt. Der Homo sapiens erbleichte, weil eine hellere Haut das wenige UV-Licht der nördlichen Breiten besser aufnehmen und so weiterhin genug Vitamin D erzeugen kann. Allerdings erblasste der Homo sapiens zweimal unabhängig voneinander: In der Gruppe, die über den Nahen Osten nach Europa zog, setzte sich eine andere Genvariation durch als in der Gruppe, die nach Ostasien gelangte.

Das 2002 gestartete International HapMap Project hat systematisch die genetischen Variationen in der Weltbevölkerung untersucht. "Anhand des Datensatzes aus 3,9 Millionen SNPs haben wir herausgefunden, dass die Selektion sich in den letzten 40.000 Jahren enorm beschleunigt hat", stellte eine Gruppe um den Anthropologen John Hawks von der University of Wisconsin bereits fünf Jahre nach Beginn des Projekts fest. Vor allem in den vergangenen 5.000 Jahren hat sich laut Hawks die genetische Vielfalt enorm erhöht. Mit der Folge, dass etwa die Ägypter, die die Pyramiden bauten, sich von ihren heutigen Nachfahren in den Genvariationen stärker unterscheiden als Homo sapiens und Neandertaler vor 40.000 Jahren - und das, obwohl es sich bei den beiden sogar um zwei verschiedene Arten handelte.

Das hat auch damit zu tun, dass die Weltbevölkerung in den zurückliegenden Jahrtausenden immer schneller gewachsen ist. Seit dem Ende der Eiszeit vor rund 11.000 Jahren stieg die Zahl der Menschen von schätzungsweise 5 auf 250 Millionen zu Cäsars Zeiten und erreichte Anfang des 19. Jahrhunderts die Milliardenschwelle. Durch chemische Zufälle entstehen in den Genen immer wieder Mutationen und fügen den vorhandenen Varianten eine neue hinzu. Jeder von uns kommt mit etwa hundert Mutationen auf die Welt und hat so Allele in seinem Genom, die weder vom Vater noch von der Mutter stammen. Je größer die Weltbevölkerung, desto mehr Mutationen werden dem Genpool des Homo sapiens hinzugefügt, die sich auf die Evolution auswirken können. Bei den gegenwärtig sieben Milliarden schwirrt und flirrt es in unseren Genomen.

Dennoch glaubten viele, unsere Evolution sei zum Stillstand gekommen. Das hatte nicht nur mit fehlenden Kenntnissen der Genetik zu tun. Mit jedem urzeitlichen Schädel unserer Urahnen, den Archäologen aus dem Erdreich buddelten, verdichtete sich das Bild, dass der moderne Mensch ein Erfolgsmodell ist - die "anderen" waren offenbar nicht fit genug: Der Neandertaler lebte zwar etliche Jahrtausende neben dem Homo sapiens, starb dann aber aus. Zuvor hatten bereits verschiedene andere Menschenarten das Zeitliche gesegnet: der Homo erectus, der Homo heidelbergensis, der Homo antecessor, bis hin zu den sehr alten Arten des Australopithecus und des Paranthropus mit ihren nur knapp halb so großen Gehirnen. In dieser Rückschau erscheint der moderne Mensch da leicht als Siegertyp, der sich nicht mehr verändern muss. Die Evolution kümmert diese Selbsteinschätzung jedoch nicht. Sie kennt kein Ende, kein Ziel.

Wie der Mensch zu dem wurde, was er heute ist, darüber wird in der Wissenschaft leidenschaftlich gestritten. Es gibt aber Hinweise auf Mutationen, die die Funktionsweise unseres Gehirns nachhaltig erweitert haben. Eine Veränderung traf vor mutmaßlich 200.000 Jahren das sogenannte FOXP2-Gen. Das haben zwar auch andere Säugetiere - selbst Mäuse - , aber die neue Variante brachte etwas Unerhörtes in Gang: die Sprache.

Eine weitere wichtige Veränderung ereignete sich vor rund 50.000 Jahren. Zu jener Zeit lernte der Homo sapiens das Denken in Symbolen, in Abstraktionen. Die ersten Höhlenmalereien entstanden, die Werkzeuge wurden ausgeklügelter. Es könnte auch die Zeit sein, in der der Mensch die Religion entdeckte. Eine Gruppe um den amerikanischen Genetiker Bruce Lahn spekulierte 2005, dass eine neue Variante des MCHP1-Gens diesen Wandel ausgelöst haben könnte. Andere Wissenschaftler kritisierten die Gruppe heftig für den spekulativen Zusammenhang zwischen Gen und Entwicklungssprung. Denn Lahn und seine Kollegen hatten auch festgestellt, dass die Genvariante bei 70 Prozent der Weltbevölkerung zu finden ist - nicht jedoch in Genomen im Afrika südlich der Sahara. Ein Befund, der einen genetisch begründeten Rassismus fördern könnte, fürchteten die Kritiker. Lahn verteidigte seine Arbeit zwar, setzte aber seine Untersuchungen am MCHP1-Gen nicht mehr fort.

Die Evolution operiert nicht ausschließlich mit der Selektion von Mutationen, die neue Fähigkeiten ermöglichen, sie kennt auch noch andere Mechanismen. Einer ist die sogenannte Gendrift. Stirbt ein großer Teil einer Population durch eine Naturkatastrophe, etwa einen Tsunami oder einen Vulkanausbruch, wird ihr Genpool kleiner - einige Varianten sind einfach ausgelöscht. Die Anthropologin Rebecca Ackermann geht nach Computersimulationen davon aus, dass die Veränderungen der Gesichtszüge der verschiedenen Menschenarten - weg von starken Kiefern und vorstehenden Mündern - durch Gendrift und nicht durch die Auslese entstanden sind.

Baut der Mensch sich seine eigene Nische?

Ein weiterer Mechanismus, den Evolutionsbiologen seit einiger Zeit diskutieren, ist die sogenannte Nischenkonstruktion. Tierarten passen sich nicht nur an ihre Umwelt an, sie verändern sie auch. Der Biber baut sie gar um, indem er Dämme errichtet. Solche selbst geschaffenen Nischen können in einer Feedback-Schleife auch wieder auf die Art zurückwirken. "Der Mensch hat seine eigene Nische in einem erheblichen Ausmaß konstruiert", sagt Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.

Nach der letzten Eiszeit erfand der Mensch zunächst Ackerbau und Viehzucht, später dann die Stadt. Sie veränderten seine Umwelt - mit Folgen. Die Rinderzucht etwa führte dazu, dass der Mensch eine Laktosetoleranz entwickelte, weil er auf Milch als Grundnahrungsmittel angewiesen war. Zuvor konnte er Milch nicht verdauen, weil er im Erwachsenenalter aufhörte, das Enzym Lactase zu produzieren. Im Nahen Osten, in Europa und in verschiedenen Regionen Afrikas führten genetische Veränderungen dazu, dass die Lactase-Bildung nicht aufhört. Für Jonathan Pritchard, Genetiker an der Stanford University, ist das eine typische "adaptive Antwort auf eine neue Praxis des Lebensunterhalts".

Der Ackerbau wiederum ist in der Geschichte des menschengemachten Klimawandels der erste Sündenfall des Homo sapiens. Als er vor 8.000 Jahren begann, Wälder zu roden, um Getreide anzubauen, erhöhte er zum ersten Mal die CO₂-Konzentration in der Erdatmosphäre. Mit Beginn des Reisanbaus vor 5.000 Jahren vermehrte er auch das Treibhausgas Methan. Das dürfte ein wesentlicher Grund sein, warum das warme Erdklima sich seit über 11.000 Jahren hält. Gemessen an den vorherigen Klimaschwankungen des Eiszeitalters, ist der Holozän, wie die gegenwärtige erdgeschichtliche Epoche heißt, erstaunlich stabil und lang. So lang, dass der Mensch genug Zeit hatte, sich die Erde untertan zu machen: Er hat keine Fressfeinde mehr, er kann sieben Milliarden Artgenossen ernähren - und sogar zum Mond fliegen.

Doch wie geht es weiter? Was bedeutet es, dass sich die Zahl der Mutationen in einer riesigen Weltbevölkerung erhöht? Wird es neue Menschenarten geben? Oder wird der Mensch noch in 5.000 Jahren genauso aussehen wie heute?

Dass sich eine neue Art vom heutigen Homo sapiens abspalten könnte, gilt in der Fachwelt als extrem unwahrscheinlich. "Heute können Gene sogar zwischen Mitteleuropa und den USA oder Thailand und Madagaskar fließen. Das wirkt homogenisierend", sagt Axel Meyer, Evolutionsbiologe an der Universität Konstanz. Neue Arten entstünden nur dort, wo Populationen getrennt voneinander existieren und zwischen ihnen kein genetisches Material ausgetauscht wird. Auch der Anthropologe Ian Tattersall, langjähriger Direktor des American Museum for Natural History, erwartet, dass wir "weiter mit den Variationen herumspielen, die wir haben, mehr aber auch nicht".

Resistente Gene gegen Malaria

Das bedeutet nicht, dass in dem vorhandenen Genpool der Weltbevölkerung keine nennenswerten Veränderungen auftreten könnten. In Afrika etwa ist der Selektionsdruck durch Malaria und HIV enorm. Wer eine Genvariante hat, die dagegen immun macht, gibt sie an seine Kinder weiter, während die anderen sterben, bevor sie sich fortpflanzen können. Die erblich bedingte Sichelzellanämie etwa, selbst eine Krankheit, bietet einen gewissen Schutz vor einer Malariainfektion. Die entsprechende Variante des Krankheitsgens breitet sich vor allem in Westafrika in den Genomen aus. Eine Resistenz gegen HIV könnte wiederum die Mutation des CCR5-Gens bewirken. Sie verhindert, dass sich das Virus über den CCR5-Rezeptor in Zellen des Immunsystems schmuggelt. Denselben Weg wie das HIV-Virus nutzten die Pocken- und Pesterreger, die seit dem Mittelalter vor allem in Europa wüteten - weshalb hier die Mutation häufiger vorkommt. In afrikanischen Genomen hingegen ist sie selten, könnte sich aber mit der Zeit ausbreiten. Allerdings: Selbst bei hohem Selektionsdruck dauert es Hunderte von Generationen, bis sie sich in fast der gesamten Bevölkerung verbreitet hat.

Sehr viele Mutationen führen indes eher zu neuen Krankheiten, als dass sie ihrem Träger wirklich nutzen. Womit wir wieder beim Autismus wären, korrekter: der Autismus-Spektrum-Störung. Etwa 500 Gene sind an dieser Hirnentwicklung beteiligt, die tatsächlich nur selten Inselbegabungen mit sich bringt. Nach offiziellen US-Statistiken ist die Zahl der Autisten von einem Fall pro 5.000 Kinder 1975 auf einen Fall pro 110 Kinder gestiegen. Diese epidemisch erscheinende Zunahme ist sicher ein Grund dafür, warum plötzlich die Rede von einer evolutionären Veränderung die Runde macht.

Dagegen spricht, dass viele autistische Fälle auf "De-novo-Mutationen" zurückgehen, die nicht von den Eltern stammen und "von selbst" auftreten. Dafür würde sprechen, dass unter den Eltern häufiger Ingenieure oder Mathematiker zu finden sind - was auf einer Linie mit der "Theorie des extrem männlichen Gehirns " von Simon Baron-Cohen liegt. Der Brite argumentiert, dass Autismus die krankhafte Ausprägung eines Gehirns sei, dessen Fähigkeit zur Systematisierung - die Baron-Cohen als typisch für naturwissenschaftlich-technisch Begabte sieht - überentwickelt ist. Die Fähigkeit zur Empathie sei hingegen deutlich unterentwickelt.

Der Mensch kann seine eigene Evolution lenken

Dass die Savants unter den Autisten mit einer gewissen Ehrfurcht gesehen werden, dürfte einem Zeitgeist entspringen, der auf der Suche nach dem superhuman ist. Damit ist weniger der Übermensch im Sinne Nietzsches gemeint als ein technisch optimierter Mensch. Besonders die Vertreter des Transhumanismus, wie der Schwede Nick Bostrom, träumen vom Download des Geistes in überlegene Maschinen. "Wir können die natürliche Evolution des Menschen durch eine gerichtete Evolution ersetzen", heißt es bei Bostrom. Hinter diesem Denken verberge sich die Vorstellung von der Evolution als schlechtem Ingenieur, die vom technikgläubigen Optimierungszwang des Neoliberalismus geprägt sei, sagt der Wissenschaftsphilosoph Alfred Nordmann. "Da spielt eine prometheische Scham mit, dass der Mensch nicht so gut ist wie seine technischen Erzeugnisse."

Der Transhumanismus mag als fixe Idee in die Geschichte eingehen, der Gedanke einer gerichteten Evolution hat es jedoch längst in den Mainstream der biotechnischen Zukunftsvision geschafft. "Der Mensch ist die erste Art, die direkt in ihr eigenes Genom eingreifen kann", sagt Max-Planck-Forscher Jean-Jacques Hublin. "Ich bin überzeugt davon, dass der Mensch der Zukunft die Evolution seines Genoms beeinflussen wird." Was als Begutachtung des Genmaterials in der Präimplantationsdiagnostik begann, könnte über die Veränderung des Embryonen-Genoms mittels Keimbahntherapie eines Tages Alltag werden. Für den Bioethiker Giovanni Maio von der Universität Freiburg wäre das ein bedenklicher Bruch mit dem Geist der Aufklärung, dank der die Unverfügbarkeit des Menschen zu einem Grundrecht wurde. "Die Manipulation eines Genoms bedeutet, dass ein Mensch den anderen steuert und diesem seine Definition von einem guten Leben aufzwingt", sagt Maio. "In der Evolution hingegen interveniert keine ideologisch aufgeladene Vorstellung vom guten Leben."

Klar ist zumindest: Die biologische Evolution selbst in die Hand zu nehmen wird dem Menschen nicht helfen auf seinem Weg durch das 21. Jahrhundert, das geprägt sein wird vom Klimawandel, dem ungebremsten Ressourcenverbrauch und einer weiter wachsenden Weltbevölkerung. Ohnehin dürfte der wichtigste evolutionäre Sprung der Zukunft ein kultureller sein - dass der Homo sapiens eine kollektive Empathie für sich als Art entwickelt und die Engstirnigkeit ablegt, zuerst an die eigene Sippe oder Nation zu denken. Doch so weit sind wir noch nicht. Der Mensch ist noch nicht fertig.

Die Quellenangaben zum ZEIT-Wissen-Artikel finden Sie hier.