Brasilien
© keystoneSchlechte Prognose: Brasiliens BIP soll Analysen zufolge um weniger als ein Prozent wachsen.
Die Behauptung, in Lateinamerika habe sich die soziale Mobilität enorm verbessert, ist übertrieben.

Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva erwähnt es fast bei jedem Auftritt: 30 Millionen Menschen seien während seiner Amtszeit der Armut entkommen und in die Mittelschicht aufgestiegen. Argentiniens Regierungschefin Cristina Fernández de Kirchner, die ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe (Kolumbien), Vicente Fox und Felipe Calderón (Mexiko), Sebastián Piñera (Chile), der amtierende ecuadorianische Präsident Rafael Correa rühmen sich ebenfalls, den Mittelstand gestärkt zu haben.

Mit 400 Franken ist man dabei

Internationale Organisationen halten über das Phänomen der «neuen lateinamerikanischen Mittelschicht» mittlerweile Kongresse ab. Laut einer Studie der Weltbank ist sie zwischen 2003 und 2009 um 50 Prozent auf mehr als 150 Millionen Personen gewachsen. Insgesamt soll ihr ein Drittel der lateinamerikanischen Bevölkerung angehören, während der Anteil der Armen von 44 auf 30 Prozent gesunken sei. Der millionenfache soziale Aufstieg gilt als wichtigstes Erbe von Lateinamerikas «goldenem Jahrzehnt»: Die Nullerjahre, als die Preise für Erdöl, Edel­metalle und Agrarprodukte unentwegt stiegen und die Nachfrage aus China unersättlich schien.

Völlig unbegründet ist der Befund zwar nicht, wie es die in ganz Lateinamerika entstandenen neuen Einkaufszentren, der dichtere Autoverkehr, die gestiegene Nachfrage nach Fernsehern, Kühlschränken und Flugreisen be­weisen. Und doch ist die Analyse schönfärberisch, weil ihr eine frag­würdige Definition des Begriffs Mittelschicht zugrunde liegt. Laut brasilianischen Statistiken gehört jemand beispielsweise bereits zum Mittelstand, wenn sein monatlicher Lohn umgerechnet 400 Franken übersteigt, wobei häufig auch Kriterien wie Bildung oder Wohnsituation berücksichtigt werden. In Mexiko genügt ein Haushalts­einkommen von knapp 500 Franken, und selbst in der erwähnten Studie der Weltbank zählt eine Familie ­bereits ab einem Einkommen von täglich 10 Dollar zur Mittelschicht.

Nun weiss jeder, der jemals ein lateinamerikanisches Land bereist oder bewohnt hat, dass derartige Ein­kommensverhältnisse nie und nimmer einen Lebensstandard ermöglichen, den man auch nur im entferntesten als mittelständisch bezeichnen kann. Der von lateinamerikanischen und internationalen Medien ausgestossene Jubel über die Millionen Lateinamerikaner, die angeblich in die Mittelschicht aufgestiegen sind, beruht auf einer groben Verzerrung der Realität.

Konsum auf Pump

Ähnlicher statistischer Unfug lässt sich mit der Reduktion der Armut betreiben, besonders mit jener der sogenannt absoluten Armut. Die Weltbank spricht von absoluter oder extremer Armut, wenn das tägliche Einkommen tiefer liegt als 1.25 Dollar. Nun ist es in ökonomischen Wachstumsphasen für eine Regierung relativ leicht, jemanden durch Sozialprogramme über diese Schwelle zu heben, womit die Person aus der Armutsstatistik verschwindet. Hat sie aber stattdessen täglich zwei oder drei Dollar zur Verfügung, ­ siecht sie noch immer in erbärmlichen Verhältnissen dahin.

In Bezug auf die angebliche Stärkung der Mittelschicht ist aus einem weiteren Grund Skepsis angebracht: Die als Symptom sozialer Mobilität gefeierte Kauflust eines Teils der lateinamerikanischen Bevölkerung ist in beträchtlichem Ausmass durch Kredite finanziert. In Brasilien beläuft sich die Verschuldung der Privathaushalte mittlerweile auf 40 Prozent des Jahreseinkommens, was zur Folge hat, dass die Ankurbelung von Konsum und Wachstum mittels erleichterter Kreditvergabe immer weniger funktioniert.

Wohltuend realistisch ist die Einschätzung der zur UNO gehörenden Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik: «Die lateinamerikanische Mittelklasse verdient diese Bezeichnung nicht aufgrund ihrer Fähigkeit, Ersparnisse anzulegen, sondern wegen ihrer Möglichkeit, sich auf Kredit Importprodukte zu kaufen.»

Weniger als ein Prozent Wachstum

Statt der Steigerungsraten von 5 Prozent oder mehr, welche die lateinamerikanischen Volkswirtschaften während des goldenen Jahrzehnts erzielten, herrscht heute in vielen Ländern konjunkturelle Flaute. Jüngsten Analysen zufolge wird das Brutto-inlandprodukt Brasiliens 2014 um weniger als 1 Prozent wachsen. Argen­tinien und Venezuela befinden sich in einer Rezession, während die mexikanische Nationalbank ihre Wachstumsprognose soeben auf 2,3 Prozent gesenkt hat. Der internationale Währungsfonds geht davon aus, dass das lateinamerikanische BIP 2014 um lediglich 2,5 Prozent zunehmen wird.

«Der Wind in Lateinamerika hat gedreht», sagte kürzlich OECD-Generalsekretär Ángel Gurría. Hauptverantwortlich dafür sind neben der steigenden privaten Verschuldung die tieferen Weltmarktpreise für Rohstoffe sowie die schwindende Nachfrage aus Fernost. Die Entwicklung gefährdet Lateinamerikas ohnehin überschätzte sozio-ökonomische Fortschritte, und sie rückt ins Scheinwerferlicht, was die Region während des goldenen Jahrzehnts alles versäumt hat: Die entschiedene Steigerung der Produktivität, die nur um kümmerliche 1,6 Prozent verbessert wurde. Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere ins Bildungswesens. Die Bekämpfung von Kriminalität und Rechtsunsicherheit. Und die Eindämmung der sozialen Ungleichheit, die trotz besserer Werte noch immer zu den ausgeprägtesten der Welt gehört.