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© Joachim Müller-JungDas „Generationenproblem“ der Mexikaner.
Mexiko setzt sich an die politische Spitze im Kampf gegen Übergewicht und Fettsucht. Wenn die meisten Kinder vor dem Fernseher oder im Kino sitzen, ist jetzt Werbung für Softdrinks verboten. Und der Feldzug gegen die Kalorienbomben geht weiter.

"Es war höchste Zeit, dass etwas passiert.“ Paulina Deschamps, Umweltforscherin aus Mexiko City und schon reichlich herumgekommen in der Welt, steht vor dem Plaza del Santo Domingo in Oaxaca und hat bis zu diesem Moment regelrechte Lobeshymnen gesprochen über den kulturellen Rang der indigenen Gruppen, die in diesen Tagen für das ,,Guelaguetza“-Festival aus dem ganzen Land angereist sind und durch die Hauptstadt des südlichen Bundesstaates ziehen. Angesprochen auf die offenkundigen lukullischen Leidenschaften vor allem der jungen Mexikaner für Süßes, Fettiges und Softdrinks jeder Art und in jedweder Größe, wird sie zornig „Das süße Zeug ist Gift für die Kinder.“

Nirgendwo in der Welt ist die Zahl der Übergewichtigen und Fettleibigen in den vergangenen zwei Jahrzehnten so stark gewachsen wie in Mexiko - der Anteil an der Gesamtbevölkerung ist zwischen 1980 und 2008 von einem Drittel auf zwei Drittel gestiegen. Nirgendwo werden auch so viel Cola und andere zuckerhaltige Erfrischungsgetränke konsumiert: 163 Liter im Schnitt pro Jahr.

Das Rostocker Max-Planck-Institut für demographische Forschung rechnet in einer neuen Studie vor, dass sich die Zahl der Übergewichtigen in Deutschland in den nächsten fünfzehn Jahren um 80 Prozent steigern könnte. Das ist nichts gegen Epidemie der Fettsüchtigen in Mexiko, die sich grausam schnell wie sonst nirgends in den medizinischen Statistiken niederschlägt: Keines der anderen fast drei Dutzend OECD-Staaten hat eine so hohe Rate an Diabetikern in der Bevölkerung wie der mittelamerikanische Staat mit seinen mehr als 120 Millionen Einwohnern.


Kommentar: Achtung hier: Fett macht nicht Fett (siehe ketogene und paläolithische Ernährung). Zucker und andere Kohlenhydrate, die unterschwellige Entzündungen hervorrufen, machen übergewichtig.


Und weil die dicken Leiber immer jünger werden, der Medienkonsum der Kinder und Jugend aber steigt, was die Krise noch weiter zu verschärfen droht, hat die Regierung jetzt ihre vor einem Jahr begonnene Kampagne gegen den explodierenden Kalorienkonsum verschärft. Damals hat man eine Steuer auf Getränke und Essen mit unverhältnismäßig hohem Zucker- und damit Energiegehalt erhoben. Ein Teil vom Fast Food und der süßen Backwaren, die Mexikaner neben den deftigen Tortilla-Gerichten so lieben, sind damit teuerer geworden. Das reicht der Regierung aber noch lange nicht. Jetzt da man mit dem Anteil der Übergewichtigen und Fettleibigen bei 70 Prozent und damit fast auf der Höhe des großen Nachbarn Vereinigte Staaten von Amerika angekommen ist, und zudem noch die Kinderrate schon bei mehr als 30 Prozent liegt, wird der Kampf nochmal verschärft.

Paulina hält es für eine Notbremse. Seit diesem Monat hat man ein schärferes Werbeverbot für kalorienhaltige Erfrischungsgetränke als jede andere Nation eingeführt: Werktags zwischen 14:30 Uhr und 19:30 Uhr und an Wochenenden zwischen 7:30 Uhr morgens bis 19:30 Uhr abends darf für die Kaloriendrinks weder im Fernsehen noch in Kinos geworben werden. Es sind die Zeiten, in denen viele Familien geschlossen, vor allem aber die Kinder, vor der Glotze sitzen. Andere Länder, auch europäische wie Großbritannien und Norwegen, haben derart schon in die Kinderprogramme eingegriffen. Mit dem radikalen Werbeverbot im öffentlichen Fernsehen und Kinoprogramm setzt sich Mexiko jetzt allerdings klar an die Spitze der Antikalorienkonsum-Bewegung.

„Wir Mexikaner wissen, dass es nicht anders geht“, sagt Pauline, die in ihrem erwachsenen Leben keine Softdrinks angerührt haben will. Die Umfragen vor dem Verbot hätten gezeigt, dass die Mehrheit ihres Volkes hinter der Maßnahme steht. Wie rabiat sie sich für die Medien und Kinos auswirkt, steht auf einem anderen Blatt: Knapp 40 Prozent der Werbung, so wurde in einem Gutachten vor der Parlamentsentscheidung ermittelt, werden durch andere Kunden ersetzt werden müssen.

Die Mexikaner berührt das mehrheitlich offenbar kaum. Die Amerikanisierung, die durch den freien Handel und den gemeinsamen Wirtschaftsraum Nafta in ihren Augen beschleunigt wurde, wird vielen Einheimischen schon unheimlich. „Die Kultur des Landes verändert sich radikal“, sagt Pauline. Einerseits wachsen der Bildungsstandard und die Wirtschaftskraft in vielen Regionen, insbesondere den städtischen, andererseits aber übernimmt man auch die Schattenseiten der nordamerikanischen Überflussgesellschaft. Es sind keineswegs nur amerikanische Firmen, die hier profitieren und die nun Federn lassen sollen. Mexikanische Softdrinkhersteller haben in den vergangenen Jahren ebenso an Umsätzen zugelegt. Der Widerstand jedoch wächst. In der vergangenen Woche gab es schon Stimmen aus der Regierung, die sich dafür ausgesprochen haben, das Werbeverbot auch auf kalorienhaltige Speisen - Fast Food und „süßes Brot“ - auszudehnen. Pauline: „Wir rechnen eigentlich alle damit, dass das so kommt.“

Autor: Joachim Müller-Jung, Jahrgang 1964, Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.