Sie nehmen Sinnesreize und Emotionen viel stärker wahr als andere. Das erschwert hochsensiblen Menschen das alltägliche Leben und lässt sie leicht zu Außenseitern werden
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Reizüberflutung: Hochsensible können Wahrnehmungen schlechter filtern
Über Lautsprecher kündigt eine scheppernde Stimme den nächsten Zug an. Aus dem Kopfhörer des jungen Mannes auf der Wartebank wummern dumpfe Bassschläge. Durchs Glasdach fällt gleißendes Sonnenlicht. Aus dem Mülleimer steigt der Geruch eines halb aufgegessenen Döner. Irgendwo weint ein Kind... Kurzum: ein ganz gewöhnlicher Nachmittag auf dem Berliner Hauptbahnhof, den das Gros der Reisenden vielleicht etwas anstrengend findet, aber trotzdem problemlos aushält. Doch für hochsensible Menschen können solche Situationen absolut unerträglich sein.

Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal

„Ihre Wahrnehmung erfasst ein wesentlich breiteres Spektrum“, sagt Birgit Trappmann-Korr, Sozialpsychologin aus Rheinberg in Nordrhein-Westfalen. „Hochsensible Personen nehmen mehr Informationen aus der Umwelt auf und das zudem in einer tieferen Qualität.“ Und genau wie bei einem Computer gilt: Je größer die zu verarbeitende Datenmenge ist, desto mehr Leistung muss erbracht werden. Deshalb trete der Zustand der Überlastung bei Hochsensiblen früher ein als bei anderen Menschen, so Trappmann-Korr. Sie hat ein Buch zum Thema verfasst und einen Verein zur Unterstützung Betroffener gegründet.

Pionier auf dem Gebiet ist die US-Psychologin Elaine N. Aron. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie das Phänomen 1996 erstmals in einem wissenschaftlichen Artikel beschrieben. Schon damals betonte Aron, dass es sich nicht um eine psychische Störung oder gar eine Krankheit handelt, sondern vielmehr um ein vererbtes Persönlichkeitsmerkmal. Als Beleg dienen Zwillingsstudien, die eine signifikante familiäre Häufung der Hochsensibilität erkennen lassen. 2011 gingen chinesische Forscher den genetischen Hintergründen dann genauer nach. In einer Analyse des Erbguts von 480 Studenten konnten sie mehrere Gene nachweisen, die mit der Überempfindlichkeit in Verbindung stehen sollen.

Wahrnehmungsfilter arbeitet anders

Auch über die neurobiologischen Hintergründe gibt es inzwischen erste Erkenntnisse. „Untersuchungen mit der funktionellen Magnetresonanztomografie zeigen, dass im Gehirn von Hochsensiblen Bereiche, die Sinnesinformationen verarbeiten, aktiver sind als normal“, berichtet Birgit Trappmann-Korr. Ganz generell gelangt von der Datenflut, die über die Sinnessysteme permanent auf das Denkorgan einströmt, nur ein kleiner Teil ins Licht unseres Bewusstseins. Der große Rest wird als irrelevant eingestuft und deshalb ausgesiebt - denn anders ließe sich der gigantische Input gar nicht bewältigen. „Dieser Filter im Gehirn kontrolliert, wieviel sensorische Informationen tatsächlich in die Wahrnehmung dringen. Er funktioniert bei Hochsensiblen anders“, erläutert die Psychologin.

Ihre amerikanische Kollegin Elaine Aron entwickelte eine spezielle Skala, mit dem sich eine „Sensory Processing Sensitivity“ feststellen lässt - das ist der wissenschaftliche Ausdruck für das Phänomen. Diesen Test benutzte die Psychologin auch, um die Zahl der Betroffenen zu ermitteln. Dabei kam sie auf 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Trappmann-Korr hält das für durchaus realistisch. Sie verweist aber gleich darauf, „dass sich davon viele im Randbereich befinden, also an der Grenze zwischen normal empfindlich und hypersensitiv.“ Genau wie das Ausmaß kann auch der Bereich, auf den sich die Hypersensibilität erstreckt, von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Manche Betroffenen nehmen Gerüche besonders intensiv und facettenreich wahr, andere vor allem optische Eindrücke und wieder andere in erster Linie Geräusche.

Außergewöhnliches Einfühlungsvermögen

Darüber hinaus nehmen hypersensible Personen auch Gefühle stärker wahr, die eigenen ebenso wie die der Mitmenschen. „Sie saugen die Emotionen anderer auf wie ein Schwamm“, sagt Birgit Trappmann-Korr. „Und wenn diese Emotionen negativ sind, kann das schnell ihre eigene Stimmung runterziehen.“ Ihr Empathievermögen ist stark ausgeprägt. Deshalb können Hochsensible oft nicht ohne weiteres unterscheiden, ob sie ihre eigenen Gefühle so intensiv empfinden, oder die eines anderen Menschen. „Deshalb gleicht ihr Tag einer emotionalen Achterbahnfahrt.“

"Ich hatte schon immer den Eindruck, irgendwie anders zu sein, nicht ins Schema zu passen" - solche Aussagen hört Trappmann-Korr häufig von den hochsensiblen Personen, die sie in ihrem Institut berät. „Dass die Betroffenen schon früh bemerken, dass sie anders als andere sind, ist ein wesentliches Kennzeichen der Hochsensibilität“, so die Psychologin. „Allerdings vergehen oft viele Jahre, bis die Diagnose gestellt wird - sofern das überhaupt passiert.“

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Erste Anzeichen zeigen sich oft schon im Kindesalter
Statt Druck: Verständnis und Rücksicht

Früh bedeutet bereits im Kindergarten oder in der Grundschule. Nach außen hin erscheinen hochsensible Kinder schüchtern, introvertiert und weniger aufgeschlossen für Neues als ihre Altersgenossen. Statt wildem Herumtoben bevorzugen sie eher ruhige Spiele, beschäftigen sich gern allein oder beobachten nur, was die anderen da so treiben. Erzieher, Lehrer und nicht selten auch die besorgten Eltern reagieren darauf oft mit Ermunterungen, nach dem Motto „jetzt mach doch mal mit“. Das setzt die Kleinen aber noch zusätzlich unter Druck. „Es ist ganz wichtig, den Kindern Räume zum Rückzug zu geben und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass es okay ist, wie sie sind“, betont Birgit Trappmann-Korr.

Auch als Erwachsene stoßen Hochsensible oft nur auf wenig Verständnis. Dass zu viele Reize sie stressen und sie im Wortsinn ihre Ruhe brauchen, wird mit Sätzen wie „sei doch nicht so empfindlich“ oder „jetzt reiß dich mal zusammen“ quittiert. Alles andere als eine Stärkung ihres Selbstvertrauens. Dieses ist meist durch das unbestimmte Gefühl, irgendwie falsch zu sein, nicht dazu zu gehören, sowieso nicht sonderlich ausgeprägt. So pendelt ihr Leben zwischen Rückzug und angestrengten Versuchen, sich an die Welt anzupassen - mit Stress und Selbstzweifeln als häufigen Begleitern.

Diagnose als Befreiung

Wenn sie dann eines Tages erfahren, was mit ihnen los ist, sind hochsensible Personen in der Regel extrem erleichtert, berichtet Trappmann-Korr. „Endlich zu wissen, dass sie keine Aliens sind, dass es viele andere Menschen gibt, die so sind wie sie selbst, ist wie eine Erlösung.“ Sich von da an eine Zeit lang bevorzugt unter ihresgleichen zu bewegen tut zwar gut, ist aber auf Dauer nicht unbedingt zielführend: „Sie müssen auch in der normalen Welt zurechtkommen. Und die ist nun einmal schnell, komplex und voll an Reizen“, sagt die Psychologin.

Eine anerkannte Therapie für die Hochsensibilität existiert bislang nicht. Brillen mit Farb- und Lichtfiltern und Gehörschutz können die Flut an Sinnesinformationen zumindest teilweise eindämmen. „Wohin man seine Aufmerksamkeit lenkt, welche Reize man zulässt und welche man ausblendet, lässt sich außerdem trainieren“, berichtet Trappmann-Korr.

Mit Meditationsübungen und Entspannungstechniken könnten Hochsensible sowohl den sensorischen Input als auch ihre eigenen Emotionen regulieren. Wichtig ist zudem, die besondere Persönlichkeitseigenschaft anzunehmen und bei der Lebensgestaltung zu berücksichtigen - etwa, in dem die Betroffenen die notwendigen Ruhepausen auch in den Alltag einplanen.


Kommentar: Wir empfehlen oft das Éiriú Eolas Programm, da es aus einer Reihe von einfachen Übungen besteht, die Sie überall und zu jeder Zeit durchführen können und sowohl aus Atemtechniken zur Entspannung und zum Stressabbau, sowie einer Meditation besteht. Die positiven Effekte werden durch die Stimulierung des Vagus-Nervs erreicht - dieser ist auch als 'wandernder Nerv' und als 'Mitgefühlsnerv' bekannt und spielt eine wichtige Rolle u.a. in der Regulierung von Stressreaktionen.

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© Éiriú Eolas

Feine Wahrnehmung kann auch nützlich sein

Birgit Trappmann-Korr bezeichnet Hochsensibilität gerne als „Wahrnehmungsbegabung“, weil die Betroffenen so feine Antennen haben, dass sie Dinge bemerken, die anderen verborgen bleiben. Etwa die Gefühle ihrer Mitmenschen, was in sozialen und therapeutischen Berufen sehr hilfreich sein kann. Gleiches gilt für ein extrem empfindliches Näschen in der Parfum-Branche oder sehr feine Ohren für den Job als Tontechniker. „Weiß man über seine Gabe Bescheid, lässt sie sich im Berufs- und Privatleben nutzen“, sagt die Expertin. „Hochsensibilität hat definitiv auch positive Seiten.“