Es sind traurige Zeiten für Washington und die Wall Street, denn die vor 25 Jahren, beim Zusammenbruch der Sowjetunion, unangefochtene einzige Supermacht der Welt verliert rapide an Einfluss. Das hätte vor einem halben Jahr noch niemand vorhergesagt. Es ist vor allem auf das Wirken eines Mannes zurückzuführen: Russlands Präsident Wladimir Putin. Und es ist auch der wahre Hintergrund des überraschenden Besuchs von US-Außenminister John Kerry in Sotschi, wo er zunächst mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow und später auch mit dem »Teufel« selbst - Putin - zu Gesprächen zusammenkam.
biden und obama
© Whitehouse
Es ist nicht der Versuch eines »Resets«; vielmehr suchen Washingtons glücklose Geopolitiker verzweifelt nach einem besseren Weg, den russischen Bären in die Knie zu zwingen.


Um zu verstehen, warum der US-Außenminister Putin gerade in diesem Moment einen Olivenzweig entgegenstreckt, blenden wir zurück zum Dezember 2014. Damals schien Washington kurz davor zu stehen, Russland mithilfe gezielter Finanzsanktionen und des mit Saudi-Arabien vereinbarten Kollapses des Ölpreises niederzuhalten. Mitte Dezember befand sich der Rubel gegenüber dem Dollar im freien Fall.

Gleichzeitig stürzte der Ölpreis auf 45 Dollar für das Barrel; ein halbes Jahr früher hatte er noch bei 107 Dollar gelegen. Da Russlands Staatsfinanzen maßgeblich von den Einnahmen aus dem Export von Erdöl und Erdgas abhängen, und da russische Unternehmen riesige Schuldverschreibungen im Ausland hielten, war die Lage aus Sicht des Kremls düster.

Doch das Schicksal kam in unverhoffter Weise (zumindest für die US-Architekten der Finanzkriegsführung und des Ölpreisverfalls) zu Hilfe. Denn John Kerrys Vereinbarung mit dem todkranken saudi-arabischen König Abdullah bedeutete nicht nur für die russischen Finanzen eine schwere Belastung. Sie drohte auch eine Explosion von geschätzten 500 Milliarden Dollar an riskanten »Ramsch«-Anleihen auszulösen - Kredite, die die amerikanische Schieferindustrie in den letzten fünf Jahren bei Wall-Street-Banken zur Finanzierung der hochgejubelten US-Schieferölrevolution aufgenommen hatte, durch die die USA für kurze Zeit zum größten Erdölproduzenten der Welt, noch vor Saudi-Arabien, geworden waren.

Die US-Strategie geht nach hinten los

Bei seinem cleveren Kuhhandel mit den Saudis hatte Kerry übersehen, dass die Royals einen eigenen Plan verfolgten. Sie hatten bereits früher bekundet, dass sie nicht gewillt waren, ihre Stellung als größter Ölproduzent und marktbeherrschende Macht an eine aufstrebende US-Schieferölindustrie abzugeben. Natürlich waren sie nur allzu bereit, Russland und dem Iran Schwierigkeiten zu machen. Vor allem aber wollten sie die amerikanische Schieferöl-Konkurrenz ausschalten.

Deren Schieferölprojekte waren ein Jahr zuvor berechnet worden, als der Ölpreis noch bei 100 Dollar für das Barrel lag. Der niedrigste Preis, bei dem sie gerade noch wirtschaftlich produzieren konnten, war in den meisten Fällen 65 bis 80 Dollar. Die Förderung von Schieferöl ist unkonventionell und teurer als die konventionelle Förderung. Die Energieberatungsfirma Douglas-Westwood schätzt, dass fast die Hälfte der gegenwärtigen US-Ölprojekte einen Ölpreis von über 120 Dollar pro Barrel braucht, um wirtschaftlich zu sein.

Ende Dezember drohte eine Kettenreaktion von Schieferöl-Bankrotten einen neuen Finanztsunami auszulösen; und das zu einem Zeitpunkt, wo das Blutbad der Verbriefungskrise 2007-2008 noch längst nicht überwunden war. Schon die Zahlungsunfähigkeit bei einigen wenigen prominenten Schieferölanleihen hätte eine Domino-artige Panik auf dem 1,9 Billionen Dollar schweren US-Ramschanleihenmarkt ausgelöst und damit eine finanzielle Kernschmelze, die US-Regierung und Federal Reserve wohl nicht hätten handhaben können. Es hätte möglicherweise das Ende des US-Dollars als weltweite Reservewährung bedeutet.

In den ersten Januartagen lobte IWF-Chefin Lagarde plötzlich Russland für die »erfolgreiche« Bewältigung der Rubel-Krise. Still und heimlich verzichtete das Office of Financial Terrorism des US-Finanzministeriums auf weitere Attacken gegen Russland, während die Obama-Regierung so tat, als herrsche weiterhin »Dritter Weltkrieg as usual« gegen Putin. Die US-Ölstrategie hatte den USA mehr geschadet als Russland.

Amerikas Russlandpolitik gescheitert

Und damit nicht genug. Washingtons Strategie des vollen Krieges gegen Russland, der im November 2013 mit dem Putsch auf dem Maidan-Platz in Kiew begann, ist mittlerweile zum kompletten Fehlschlag geworden, der für Washington den schlimmsten vorstellbaren geopolitischen Albtraum schafft.

Weit davon entfernt, als hilfloses Opfer zu reagieren und sich vor Angst Washingtons Versuch der Isolierung Russlands zu beugen, startete Putin eine ganze Serie außenwirtschaftlicher, militärischer und politischer Initiativen, die im April die Saat für eine neue globale Währungsordnung und einen neuen eurasischen Wirtschaftskoloss legten, der eine Konkurrenz für die Hegemonie Amerikas als einziger Supermacht darstellt. Von Indien bis Brasilien, Kuba, Griechenland und der Türkei forderte er die Grundlagen des Dollar-Systems und die globale Weltordnung heraus.

Russland und China unterzeichneten umfangreiche Energieabkommen, durch die Russland seine Energiestrategie umdirigieren konnte, weg vom Westen, wo die EU und die Ukraine unter Druck aus Washington die Lieferung russischen Erdgases durch die Ukraine sabotiert hatten. Wiederum unter Druck Washingtons stellte die EU der geplanten Erdgaspipeline South Stream nach Südeuropa ständig neue Hindernisse in den Weg.

Anstatt sich defensiv zu verhalten, schockierte Putin während seines Türkeibesuchs am 1. Dezember 2014 die EU mit der Ankündigung, er habe das Gazprom-Projekt South Stream auf Eis gelegt. Er werde sich um ein Abkommen mit der Türkei bemühen, russisches Gas an die Grenze Griechenlands zu transportieren. Von dort müsse die EU dann, wenn sie das Gas haben wolle, eigene Pipelines finanzieren. Der Bluff der EU war bloßgestellt. Die zukünftige Versorgung mit Erdgas stand auf dem Spiel.

Auch die EU-Sanktionen gegen Russland gingen nach hinten los, als Russland mit einem Importverbot von Nahrungsmitteln aus der EU reagierte und auf Selbstversorgung setzte. Und Milliarden Dollar aus Verträgen oder Exporten deutscher Firmen wie Siemens oder der französischen Total standen plötzlich auf der Kippe. Boeing erlebte, wie Flugzeugbestellungen russischer Fluggesellschaften storniert wurden. Russland kündete an, man werde sich bezüglich der Produktion wichtiger Rüstungskomponenten an inländische Anbieter wenden.

Dann wurde Russland zum »asiatischen« Gründungsmitglied von Chinas erfolgreicher Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), die das ehrgeizige Projekt Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtel mit Hochgeschwindigkeits-Schienenverbindungen durch Eurasien in die EU finanzieren soll. Anstatt Russland zu isolieren, ging die Politik der USA ins Leere, denn trotz massiven Drucks traten langjährige US-Verbündete wie Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Südkorea umgehendder neuen AIIB bei.

Darüber hinaus gaben Chinas Präsident Xi Jinping und Wladimir Putin bei ihrem Moskauer Treffen im Mai bekannt, dass Chinas Seidenstraßen-Eisenbahn-Infrastruktur fest in Russlands Eurasische Wirtschaftsunion integriert wird. Das bedeutet nicht nur einen gewaltigen Schub für Russland, sondern auch für Eurasien bis China, eine Region, die die Mehrheit der Weltbevölkerung beheimatet.

Kurz gesagt: Dadurch, dass Kerry angewiesen wurde, tief durchzuatmen, demütig nach Sotschi zu fliegen und Putin eine Art Friedenspfeife anzubieten, hatten führende US-Kreise, die amerikanischen Oligarchen, gemerkt, dass ihre aggressiv neokonservativen Kriegsfalken wie Victoria »Fuck the EU« Nuland vom State Department und Verteidigungsminister Ashton Carter die Schaffung einer neuen Weltstruktur beförderten, die das Ende für das gesamte in Bretton Woods geschaffene von Washington dominierte Dollar-System bedeuten könnte.

Indem sie ihre europäischen »Alliierten« zwangen, sich der amerikanischen Anti-Putin-Linie anzuschließen - sehr zum Missfallen übrigens der wirtschaftlichen und politischen Interessen in der EU, nicht zu reden von ihrer Teilnahme an dem Wirtschaftsgürtel Seidenstraße und dem Boom an damit einhergehenden Investitionen - , haben es Washingtons Neokonservative geschafft, dass Deutschland, Frankreich und andere kontinentaleuropäische Länder in Zukunft möglicherweise andere Wege einschlagen als Washington.

Allmählich betrachtet die gesamte Welt (einschließlich der Anti-Atlantiker im Westen) Putin als Symbol des Widerstands gegen die amerikanische Dominanz. Diese Sicht kam zunächst zur Zeit der Snowden-Enthüllungen auf, hat sich aber nach Sanktionen und Blockade verfestigt. Solch eine Sicht hat übrigens in der geopolitischen Auseinandersetzung eine wichtige psychologische Bedeutung - ein derartiges Symbol eröffnet neue Wege im Kampf gegen die Hegemonie.


Aus all diesen Gründen wurde Kerry nach Sotschi gesandt, um mögliche Schwächen für einen zukünftigen neuen Angriff auszuloten. Den US-unterstützten Spinnern in Kiew gab er das Signal, sich zu mäßigen und das Minsker Waffenstillstandsabkommen zu respektieren. Die Forderungbedeutete für Kiew einen Schock. Der von den USA ins Amt gehievte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk sagte im französischen Fernsehen: »Sotschi ist definitiv nicht der beste Ort für Gespräche mit dem russischen Präsidenten und dem russischen Außenminister.«

Gegenwärtig ist nur eines klar: Washington hat endlich begriffen, wie dumm die Provokationen gegen Russland in der Ukraine und weltweit sind. Was als Nächstes folgt, ist noch nicht absehbar, klar ist aber, dass der Obama-Regierung von den höchsten Stellen der US-Institutionen eine drastische Änderung der Politik befohlen wurde. Anders ist die Richtungsänderung nicht zu erklären. Ob Vernunft an die Stelle des neokonservativen Irrsinns tritt, bleibt abzuwarten. Klar ist, dass Russland und China fest entschlossen sind, sich nie wieder der Gnade einer unberechenbaren einzigen Supermacht auszuliefern. Kerrys kläglicher Versuch eines zweiten »Resets« in Sotschi wird Washington wenig einbringen. Die US-Oligarchie ist, wie Shakespeares Hamlet sagt, »in der eigenen Schlinge gefangen« - der Bombenleger sprengt sich mit seiner eigenen Bombe in die Luft.