Eine in der Petrischale erzeugte Rattenpfote weckt Hoffnungen für Menschen mit abgetrennten Gliedmaßen: Wissenschaftler hoffen, dass die Technik in etwa zehn Jahren in der Medizin zum Einsatz kommen könnte.
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"Wir haben die Pfote einer toten Ratte von allen Zellen befreit, so dass sie keinerlei Zellen mehr enthielt", sagt Forschungsleiter Harald Ott vom Massachusetts General Hospital in Boston. "Dann haben wir sie mit lebenden Zellen quasi besiedelt." Das Ergebnis sei eine im Wesentlichen funktionierende Gliedmaße gewesen.

Die Forscher haben auch den Unterarm eines Pavians von Zellen befreit und so nachgewiesen, dass die Methode grundsätzlich auch bei Primaten angewendet werden kann. Ott rechnet mit ersten Anwendungen in der Humanmedizin im kommenden Jahrzehnt. "Dann wird man nicht gleich einen Unterarm wachsen lassen, aber vielleicht Muskeln."

Struktur mit neuen Zellen besiedelt

Die Forscher hatten mit einem Lösungsmittel in einem tagelangen Prozess alle lebenden Zellen von der amputierten Pfote einer Ratte gelöst. Nur die Grundstrukturen blieben erhalten. Dann besetzten sie die einzelnen Teile wieder mit lebenden Zellen eines anderen Tieres.


In den folgenden Tagen wuchsen die einzelnen Gewebe wie Muskeln und Adern wieder heran. Insgesamt dauerte die Wiederbesiedlung zwei Wochen.

Der große Vorteil des Verfahrens sei, dass die Immunreaktion nach einer Transplantation weit geringer ausfalle, weil das transplantierte Organ ja mit den eigenen Zellen besiedelt wurde, so Ott. Funktionstests hätten gezeigt, dass die Muskeln der künstlichen Pfote auf elektrische Anregung mit Kontraktionen reagierten, erläuterten die Forscher. Ihre Kraft habe etwa 80 Prozent der von Muskeln einer neugeborenen Ratte erreicht.

Hürde: Aufbau der Nerven

Nach der selben Methode - Entfernung aller Zellen eines Spenderorgans und Besiedelung mit lebenden Zellen - wurden schon Nieren, Lebern, Herzen und Lungen von Tieren geschaffen . Gliedmaßen sind aber viel komplexer.

Die bisherigen Ergebnisse nähren zwar die Hoffnung, so irgendwann auch beim Menschen Gliedmaßen ersetzen zu können. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg: Besonders schwierig dürfte in diesem Zusammenhang der Aufbau der Nerven sein.

Den Medizinern zufolge leben allein in den USA mehr als 1,5 Millionen Menschen mit fehlenden Gliedmaßen. Trotz großer Fortschritte bei den Prothesen bleiben wohl auch diese eine Belastung für das tägliche Leben der Patienten.

"Die komplexe Natur unserer Gliedmaßen macht es zu einer großen Herausforderung, sie zu ersetzen", sagt Ott. "Sie bestehen aus Muskeln, Knochen, Knorpel, Sehnen, Bändern und Nerven - alles muss aufgebaut werden und alles bedarf einer bestimmten Grundstruktur." Sein Team hat nun bewiesen, dass diese Struktur erhalten und mit neuem Gewebe versehen werden kann.

Methode benötigt Spenderorgan

Wirklich neu sei der Ansatz nicht, sagt Raymund Horch, Direktor der Plastisch- und Handchirurgischen Klinik am Universitätsklinikum Erlangen. Eine solche "Dezellularisierung und Repopularisierung" sei auch schon mit anderen Geweben wie Herz und Trachea gemacht worden, habe aber bisher dennoch keinen Einzug in die klinische Anwendung gefunden.

"Es ist aber ein interessanter Ansatz, weil man letztlich doch die Natur braucht, um ein optimales Stützgerüst zu haben, welches dann durch Dezellularisieren wieder lebendig gemacht werden soll", so Horch. "Das eigentliche Anliegen, nämlich einmal ganze Organe zu züchten, wird damit nicht wirklich gelöst."

Selbst wenn bei dem Ansatz künftig einmal alles gut funktionieren sollte, werde immer noch ein Spenderorgan benötigt. "Das ist aber das Problem bei der initialen Idee des Tissue Engineering gewesen: Man wollte eben gerade den Mangel an Spenderorganen umgehen."

science.ORF.at/dpa

Die Studie

"Engineered composite tissue as a bioartificial limb graft", "Biomaterials" (doi: 10.1016/j.biomaterials.2015.04.051).