Wer sich nicht an die unsichtbaren Regeln einer Gemeinschaft hält, wird zwangsläufig zur Zielscheibe beim Lästern

Menschen, die durch negatives Verhalten aufgefallen sind, erhalten danach deutlich mehr Aufmerksamkeit als andere.


Eine wichtige Funktion des Lästerns ist es, möglichst schnell und möglichst viel über andere Menschen zu erfahren

Wenn alle Menschen wüssten, was die einen über die anderen reden, gäbe es keine vier Freunde auf Erden", sagte einmal der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal. Auch wenn es ganz so schlimm vielleicht nicht ist: Die Vorstellung, dass hinter unserem Rücken über uns getratscht wird, ist nicht sehr angenehm. Und doch tun wir es selbst ständig. Mehr als ein Drittel der Zeit, die wir miteinander sprechen, drehen sich die Themen um Personen, die gar nicht anwesend sind, fand der Psychologe Robin Dunbar von der University of Liverpool bereits 1997 heraus. Er hatte mit seinem Forscherteam in Zügen, Bars und Einkaufszentren fremde Gespräche zu wissenschaftlichen Zwecken belauscht.

Während Plaudereien über Politik, Sport, persönliche, praktische oder technische Angelegenheiten insgesamt rund 60 Prozent der Gesprächsinhalte ausmachten, gehörte der Rest der Zeit dem Klatsch und Tratsch. Dunbar wiederholte die Studie mehrmals, doch die Prozentzahlen blieben die gleichen, egal ob es sich bei den Belauschten um Männer oder Frauen, Jüngere oder Ältere handelte. Menschen seien von Natur aus geschwätzig, sagt Dunbar. Aber wenn ohnehin jeder über jeden redet, woher kommt dann dieses seltsame Unbehagen bei der Vorstellung, selbst Thema einer solchen Unterhaltung zu sein? Aller Klatsch und Tratsch über uns könnte doch auch positiv sein, oder?

Dass dem nicht so ist, haben viele im Gespür, und wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen es durchaus: Klatsch ist oft negativ. In der 2006 erschienenen Studie des Psychologen Alex Mesoudi von der schottischen University of St. Andrews waren für die Probanden Geschichten, die sich um Themen wie Untreue oder Lügen drehten, nicht nur interessanter als andere, sie erinnerten sich auch besonders gut an sie. Und in der heute in der Fachzeitschrift "Science" erschienenen Studie konnte das Forscherteam um Eric Anderson von der Northeastern University noch etwas anderes zeigen. Sie zeigten den Probanden unbekannte Gesichter zusammen mit positiven, neutralen oder negativen Informationen über deren soziales Verhalten. So hatte etwa jemand einer alten Dame beim Einkaufen geholfen, während ein anderer einen Stuhl nach seinem Mitschüler geworfen hatte.

In einem zweiten Durchlauf schauten die Teilnehmer dann durch eine Art Fernglas, bei der jedem Auge ein anderes Bild gezeigt wird. Jedes bereits bekannte Gesicht wurde dabei mit dem neutralen Bild eines Hauses kombiniert. In der Aufmerksamkeit der Teilnehmer konkurrierten die beiden Bilder dann, denn zwei Dinge können nicht gleichzeitig wahrgenommen werden, nur nacheinander. Das Auge muss sich also schnell entscheiden, welche der beiden Informationen die wichtigere ist. Dieses Bild wird dann als Erstes gesehen, während das zweite erst nach einiger Zeit im Bewusstsein auftaucht. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die Gesichter mit den negativen Informationen am schnellsten und längsten gesehen wurden, mit großem Abstand zu positiven und neutralen Gesichtern oder den Häusern. Sie schlussfolgern, dass Menschen, die einmal durch negatives Verhalten aufgefallen sind, danach ganz unmittelbar und unbewusst mehr Aufmerksamkeit bekommen als andere. Das ist für die Betroffenen zwar nicht so angenehm, aber durchaus sinnvoll für alle anderen.

Denn eine wichtige Funktion des Lästerns ist, möglichst schnell möglichst viel über andere Menschen zu lernen, ohne jeden von ihnen sehr gut kennen zu müssen. Robin Dunbar hält das sogar für lebensnotwendig. Der Klatsch sei eine Art soziales Warnsystem, sagt er. Von jemandem, der angeblich unzuverlässig, boshaft oder hinterhältig ist, hält man sich lieber gleich fern, bevor man die erste schmerzhafte Erfahrung macht.

Lästern hilft also zu lernen, wen man besser meidet und wem man vermutlich trauen kann. Doch nicht nur das. Es gibt auch eine Orientierung für das eigene Handeln. Welche Verhaltensweisen im eigenen sozialen Umfeld nicht gern gesehen sind und welche durch Anerkennung belohnt werden - diese soziale Kontrolle ist Psychologen zufolge eine weitere wichtige Funktion des Lästerns. Deshalb geht es beim Klatsch und Tratsch häufig darum, dass jemand sich nicht an die unsichtbaren Regeln der Gemeinschaft gehalten hat. Deshalb sind auch moralische Fehltritte besonders beliebte Themen zum Lästern.

Wenn die Wertevorstellungen einer Gruppe bestätigt werden, wächst aber auch das Gemeinschaftsgefühl. Je kleiner und in sich geschlossener die Gemeinschaft ist, desto wichtiger ist die soziale Kontrolle. Darum wird in kleinen Dörfern weitaus mehr gelästert als in der Stadt, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid an über 1000 Menschen herausfand. Während nach eigenen Angaben in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern 35 Prozent der Bewohner mehrmals in der Woche über Nachbarn und Kollegen tratschen, waren es in Städten nur 24 Prozent.

Eine letzte Funktion, die eher dem Einzelnen als der Gemeinschaft Vorteile verschafft, ist schließlich der soziale Vergleich. Wenn über andere gelästert wird, kann das nämlich auch dabei helfen, sich selbst besser zu fühlen. Lästern ist dann ein Weg mit zwei Zielen: Sich über andere zu erheben und gleichzeitig in sozial akzeptierter Form Dampf abzulassen. Doch eines sollte man nicht vergessen: Lästern ist eine Form verbaler Aggression und kann damit auch viel Schaden anrichten. Denn während es dem einen soziale Macht gibt, macht sie den anderen ohnmächtig. In extremen Formen, wie beim Mobbing, kann das zur sozialen Isolation führen - mit psychischen Folgen für die Betroffenen.

Wer mit Lästern Feindseligkeiten und Rivalitäten aushandelt, macht sich die soziale Kontrolle in Gruppen zunutze und verhindert gleichzeitig eine direkte Konfrontation. Früher war der eigene Ruf bei anderen unter Umständen lebenswichtig, wie etwa in den Zeiten der Hexenverfolgung. Heute sind vor allem Menschen mit hohem sozialem Status, wie Politiker oder Schauspieler, auf ihren Ruf bedacht - denn ihr Job hängt in der Regel zu einem großen Teil davon ab.

Andersherum kann aber das Verhalten solcher Menschen auch soziale Normen verändern, sagt der Psychologe Charles Walker von der St. Bonaventure University in New York. Deshalb sei es so spannend, beispielsweise die bekannt gewordene Affäre eines beliebten Politikers mitzuverfolgen. "Wenn Prominente ein Verhalten außerhalb der Norm zeigen, wird dieses ein Kandidat für eine veränderte Norm", erläutert Walker: "Es ist für die Menschen natürlich wichtig, das zu verarbeiten." Die Entwicklung könnte ja durchaus auch für das eigene Leben weitreichende Folgen haben.

Wenn wir an den Klatschgeschichten der Prominenz nicht vorbeischauen können liegt das also nicht nur an purer Sensationslust. Übrigens: Männer sind an Klatsch genauso interessiert wie Frauen. In der Studie des amerikanischen Psychologen Frank McAndrew vom Knox College in Illinois bekamen Studenten Klatschzeitschriften zu lesen und wurden anschließend dazu befragt. Dabei kam heraus, dass die Männer vor allem Artikel mit negativen Nachrichten über ihre etwa gleichaltrigen Geschlechtsgenossen lasen, während Frauen sich für die Malheurs prominenter Frauen interessierten. Das Lästern über Berühmtheiten hilft aber nicht nur, Wertevorstellungen zu überprüfen, es ist auch eine ziemlich sichere Sache. Denn es gefährdet zum Glück nicht unsere Beziehungen im ganz realen Leben.