Mit Argumenten der Geheimverhandlungen über das Transatlantische Freihandelsabkommen, aber auch unter enormem Lobbydruck von Chemiekonzernen wie Bayer AG und BASF hat die EU-Kommission klammheimlich den Plan begraben, Pestizide strikter zu regulieren. Das ist keine nebensächliche bürokratische Angelegenheit: Auf dem Spiel stehen Gesundheit und Sicherheit von Millionen Menschen in der EU, ganz zu schweigen von Tieren, Vögeln, Insekten und der Natur insgesamt.

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Schon 1999, also vor 16 Jahren, untersuchte die EU-Kommission die möglichen gesundheitlichen Gefahren durch chemische endokrin wirksame Pestizid-Wirkstoffe (EDC, nach dem englischen »endocrine disrupting chemical«). Doch bis heute wurde in Brüssel nichts unternommen, Gesundheit und Sicherheit der Bürger gemäß dem »Vorsorgeprinzip« zu schützen. Nach dem Vorsorgeprinzip bleibt eine Substanz bei noch nicht klar definierten Hinweisen auf Schädlichkeit so lange verboten, bis ihre Sicherheit erwiesen ist. Das gilt für GVO-Nutzpflanzen und das Glyphosat-Herbizid Roundup genauso wie für EDCs oder DDT.

Wissenschaftler bringen EDCs schon in geringen Dosen mit einem Anstieg fetaler Auffälligkeiten, erniedrigter Spermienzahl, Missbildungen der Geschlechtsteile, Hodenhochstand, Penis-Missbildungen, Unfruchtbarkeit, Krebs und sogar eingeschränktem IQ in Verbindung. Eine neuere Studie der Washington University School of Medicine fand einen Zusammenhang zwischen 15 EDCs in Plastik, Körperpflegeprodukten, Kosmetika und Haushaltsgegenständen und vorzeitigem Einsetzen der Wechseljahre.

Die Kosten der gesundheitlichen Schädigung durch EDCs werden in der EU auf jährlich 147 bis 270 Milliarden Euro geschätzt. Endokrin wirksame Stoffe finden sich in Lebensmittelbehältern, Plastik, Möbeln, Spielsachen, Bodenbelägen und Kosmetika. Professor Philippe Grandjean von der Harvard University gehört zu einer Gruppe von 18 Endokrinologen, die eine Studie über endokrin wirksame Substanzen durchgeführt haben; er betont: »Dabei erschreckt vor allem, dass der Großteil dieser Kosten auf den Verlust der Gehirnfunktion bei der nächsten Generation zurückzuführen ist.«

Auf Grundlage solcher wissenschaftlicher Studien hatte die EU eine Liste von 31 endokrin wirksamen Substanzen vorbereitet, die 2014 komplett verboten werden sollten. Immer mehrUntersuchungen hatten gezeigt, dass EDCs schon in extrem niedriger Dosierung toxisch wirken; deshalb reiche eine genauere Überwachung nicht aus, man brauche ein umfassendes Verbot.

Angeliki Lyssimachou, Umwelttoxikologin beim Pesticide Action Network Europe (PAN), sagt: »Wären die von der Kommission vorgeschlagenen ›Ausschluss‹-Kriterien korrekt angewendet worden, wären heute 31 Pestizide verboten und das Mandat der Pestizid-Aufsicht, Menschen und Umwelt vor den unterschwellig chronisch endokrin wirksamen Pestiziden zu schützen, wäre erfüllt.«

Stattdessen favorisiert die EU die von der Industrie unterstützte Option für ein »Potenz-basiertes« Maß für EDCs. Damit würden Grenzwerte gesetzt, EDCs mit geringer Potenz gälten als unschädlich, auch wenn keine Langzeituntersuchungen über die Wirkung auf den Menschen durchgeführt wurden.

Chemische Industrie siegt über Gesundheit und Sicherheit

Für die nicht gewählten, gesichtslosen Bürokraten in der EU-Kommission, die über unser tägliches Leben enorm viel Macht haben, aber keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, waren die Interessen des internationalen Handels offenbar vorrangig.

Eine der Gesichtslosen, die das Verbot kippten, ist jetzt aber bekannt: Ihr Name lautet Catherine Day. Sie gehört zu den engsten Mitarbeitern von EU-Präsident Jean-Claude Juncker, hat vermutlich als Generalsekretärin der EU-Kommission mehr Macht als dieser. Den Posten bekleidet sie seit über zehn Jahren unter zwei Präsidenten.

Laut EU-Dokumenten, die dem britischen Guardian vorliegen und jetzt veröffentlicht wurden, kippte die gebürtige Irin das geplante EDC-Verbot am 2. Juli 2013, wenige Stunden nachdem Vertreter von TTIP-Offiziellen der US-Vertretung bei der EU in Brüssel aufgetaucht waren. Am selben Tag schickte EU-Generalsekretärin Day einen Brief an den Direktor der Generaldirektion Umwelt, den Deutschen Karl Falkenberg, indem sie ihn anwies, die vorgeschlagenen Kriterien fallenzulassen, nach denen EDCs gemäß dem »Vorsorgeprinzip« verboten worden wären.

Europäische Chemiekonzerne wie Bayer AG und BASF schlossen sich der amerikanischen Handelskammer an und betrieben gemeinsam Lobbyarbeit für die Aufhebung des Verbots.

In den Wochen vor dem 2. Juli 2013 richtete der TTIP-Ausschuss der amerikanischen Handelskammer in Washington vor seiner Reise nach Brüssel einen Brief an die EU-Kommission, in dem es hieß: »Wir befürchten, dass diese Entscheidung [zum Verbot - F.W.E.], die Gegenstand wissenschaftlicher Debatten ist, aus politischen Gründen gefällt wurde, ohne die Auswirkungen auf den europäischen Markt zu berücksichtigen.« Auch BASF klagte, ein Verbot von Pestiziden werde »den freien Handel mit Agrarprodukten auf globaler Ebene einschränken«.

Aus den internen EU-Dokumenten, die dem Guardian vorliegen, geht hervor, dass eine hochrangige Delegation der amerikanischen Handelskammer bei einem Treffen mit EU-Handelsvertretern am 2. Juli 2013 darauf bestand, die EU müsse die geplanten Kriterien zur Identifizierung von EDCs zugunsten einer neuen »Wirkungsstudie« aufgeben, die die EDCs nicht berührte.

Laut Guardian zeigt das Protokoll des Treffens, dass Vertreter der EU-Kommission den Standpunkt vertraten, sie wollten »auch wenn sie wünschten, dass TTIP ein Erfolg werde, nicht den Eindruck erwecken, die EU-Standards zu senken«.

Wenn alle 31 EDCs wie ursprünglich geplant verboten worden wären, hätte das auf dem EU-Markt allenfalls Einbußen von neun Milliarden Euro jährlich bedeutet - verglichen mit bis zu 270 Milliarden Euro Kosten für die Behandlung von Gesundheitsschäden durch EDCs. Als Journalisten von der EU-Kommission die Veröffentlichung der Hintergrundmemoranden und -diskussionen verlangten, entgegnete eine Sprecherin der Kommission: »Die Kommission ist nicht verpflichtet, interne Arbeitspapiere zu veröffentlichen. Wie Sie wissen, handelt die Europäische Kommission völlig unabhängig und im allgemeinen europäischen Interesse.«

Entschuldigen Sie, Madame, könnten Sie das noch einmal langsam wiederholen? »Wie Sie wissen, handelt die Europäische Kommission völlig unabhängig und im allgemeinen europäischen Interesse?«

Catherine Day verteidigte ihre Aufhebung des Verbots: »Es erübrigt sich zu sagen, dass der Vorwurf, unsere Haltung sei durch die Industrie oder irgendjemanden sonst beeinflusst, jeglicher Grundlage entbehrt. Uns geht es ausschließlich um die Qualität und Kohärenz der Arbeit der Kommission - aber nicht jeder ist bereit, darauf zu warten.« Die Arbeit ihrer Kommission ist für die Bevölkerung durchgängig schädlich, aber genau deshalb zieht es Brüssel vor, so gesichtslos wie nur möglich zu bleiben.

Wir lassen zu, dass die nicht gewählten, gesichtslosen, unmoralischen Bürkraten Macht über unsere und unserer Kinder Gesundheit, ja sogar unser Leben ausüben, egal ob sie toxische GVO oder EDCs zulassen. Offenbar sind wir von etwas hypnotisiert, das uns bei schier unglaublichem, für uns alle schädlichem Handeln passiv bleiben lässt. Ist das nicht interessant?