Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus - Polizei rät in jedem Fall zur Anzeige
Sexuelle Belästigung
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Der Fall des zurückgetretenen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn (62) hat das Thema zurück in die Büro-Diskussionen gebracht: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist weit verbreitet. Die Opfer sind vor allem Frauen.

Meist fängt es ganz harmlos an: Ein zotiger Witz unter Kollegen in der Kantine, zweideutige Anspielungen in der Kaffeeküche. Doch oft folgen sexuelle Avancen auf Betriebsfeiern oder im Büro.

Sexuelle Übergriffe sind laut einem Bericht der Welt am Sonntag in deutschen Unternehmen viel weiter verbreitet als bisher angenommen. Experten gehen davon aus, dass jede zweite Frau im Job sexuell belästigt wird. Das ergab eine Untersuchung zur „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen“ im Auftrag des Bundesfamilienministeriums (2005).

Schlimm - 58,2 Prozent der 10 000 befragten Frauen gaben der Studie zufolge an, sie hätten schon einmal „Situationen sexueller Belästigung erlebt, sei es in der Öffentlichkeit, im Kontext von Arbeit und Ausbildung oder im sozialen Nahraum“.

Am „Arbeits-, Ausbildungsplatz und in der Schule“ war das bei 41,9 Prozent der Befragten der Fall.

Bei der Frage, was genau passiert ist, steht die sexuelle Belästigung per „Telefon, E-Mail oder Brief“ an der Spitze (55 %). Danach folgen „Nachpfeifen, Bemerkungen, Anstarren“ (53,8 %) und „unnötig nahe gekommen“ (33,9 %).

Aber es kommt auch zu handfesten Übergriffen: 32,1 % der Befragten gaben an, sie wurden „betatscht, versucht zu küssen“. Und: 25,6 % der Frauen wurden Opfer von „Exhibitionismus“, bei dem der Täter sich vor Ihnen entblößt hat.

Die tatsächliche Zahl der Fälle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist jedoch schwer zu schätzen, denn nur wenige Vorfälle kommen zur Anzeige.

„Wir gehen von einer großen Zahl von Fällen aus, die nicht gemeldet werden“, sagte die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), Christine Lüders, der „Welt am Sonntag“.

Bei der Beschwerdestelle suchten seit dem Jahr 2006 lediglich 65 Frauen Rat und Hilfe wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.

Doch die Dunkelziffer sei hoch, glaubt Lüders. „Im Job trauen sich viele Frauen nicht, ihre Kollegen oder Kunden offen zu beschuldigen.“ Dafür spreche auch, dass kaum Fälle vor Gericht landen.

Verantwortlich dafür sei u. a. die Frage der Beweisbarkeit solcher Vorwürfe: „Das Opfer muss Beweise für die Anschuldigungen vorlegen“, sagte Lüders. „Das ist jedoch denkbar schwer und so steht oft Aussage gegen Aussage.“

Polizei rät zur Anzeige

Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, rät betroffenen Frauen dazu, die Vorfälle unbedingt zur Anzeige zu bringen.

Wendt zu BILD.de: „Die Opfer müssen solche Vorfälle bei der Polizei und nicht nur bei ihrem Arbeitgeber melden. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist nämlich keine innerdienstliche Angelegenheit. sondern ein schweres Vergehen.“

Zudem rät Wendt Frauen im Büro-Alltag dazu, Grenzen klar aufzuzeigen: „Es ist ganz wichtig, dass Frauen deutlich machen: ‚Bis hierhin und nicht weiter!’“

Die Tatsache, dass viele der Opfer sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht zur Anzeige bringen, erklärt Wendt mit deren Existenzangst.

Wendt zu BILD.de: „Die meisten Frauen haben Angst, ihren Job zu verlieren. Auch der Gruppendruck im Sinne von - 'Jetzt hab Dich doch nicht so!' - und ein falsch verstandenes Schamgefühl halten viele Opfer von einer Anzeige zurück.“

Arbeitgeber in der Pflicht

„Der Arbeitgeber hat die Pflicht, die betroffenen Beschäftigten umfassend vor denjenigen zu schützen, die sie belästigen“, stellte Lüders von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes klar.

Möglich seien Abmahnungen, Versetzungen oder auch Kündigungen.

Der Arbeitgeber „muss deutlich machen, dass er die Situation der Betroffenen ernst nimmt und hinter ihr steht“, sagte Lüders der Welt am Sonntag. Denn „bagatellisieren und totschweigen dagegen kann traumatische Folgen für Betroffene haben“.