Es gibt keine unschädliche Dosis: Schon geringste Belastungen durch ionisierende Strahlung reichen aus, um auf Dauer das Leukämie- und Lymphomrisiko zu erhöhen. Das belegt die bisher größte Studie zu diesem Thema an mehr als 300.000 Arbeitern in Atomkraftwerken. Entgegen gängiger Annahme gibt es dabei keine Untergrenze und eine anhaltende Niedrigdosis wirkt genauso krebserregend wie eine einzige höhere Akutbelastung, wie die Forscher im Fachmagazin "Lancet Haematology" berichten.

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© Fuse/ thinkstockIonisierende Strahlung - ob aus Atomkraft oder Röntgenstrahlen - kann Blutkrebs auslösen.
Schon seit Jahren wird darüber gestritten, wie schädlich selbst geringste Dosen ionisierender Strahlung sind. 2007 sorgte eine Studie für Aufsehen, die vermehrt Leukämie bei Kindern im Umfeld von Atomkraftwerken fand. Im letzten Jahr stellten Forscher fest, dass schon eine leicht erhöhte Hintergrundstrahlung das Risiko für Leukämie und Hirntumoren bei Kindern verdoppelte.

Gut 300.000 Kernkraftwerks-Arbeiter

Ein internationales Forscherteam um Klervi Levraud vom französischen Institut für Strahlenschutz und Reaktorsicherheit hat nun die Gefahr niedriger Strahlendosen in der bisher größten Studie dieser Art erneut untersucht. Sie werteten dafür die Gesundheitsdaten von mehr als 308.000 Arbeitern aus, die in Frankreich, Großbritannien und den USA jeweils mindestens ein Jahr lang in Atomkraftwerken gearbeitet hatten.

Weil diese Arbeiter während ihres Aufenthalts im Kraftwerk Dosimeter tragen müssen und die Werte registriert werden, lässt sich auch im Nachhinein noch ermitteln, welcher radioaktiven Belastung sie ausgesetzt waren. Die Forscher ermittelten, wie viele dieser Arbeiter an einer Leukämie oder einem Lymphom erkrankten und wie viele von ihnen daran starben. Ihre Daten reichten dabei bis zu 60 Jahre weit zurück.

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© Bassaar/ CC-by-sa 3.0Atomkraftwerk Cattenom in Frankreich
Erhöhte Leukämieraten

Das Ergebnis: Im Durchschnitt war die Strahlenbelastung der Kraftwerks-Arbeiter relativ gering: Pro Jahr lag sie nur etwa 1,1 Millisievert über der mittleren Hintergrundstrahlung, die 2 bis 3 Millisievert beträgt. Die kumulierte Strahlendosis der Arbeiter lag bei durchschnittlich 16 Millisievert. Zum Vergleich: Schon eine Computertomografie des Rumpfes führt zu einer kurzzeitigen Strahlenbelastung von 10 Millisievert.

Trotz ihrer eigentlich geringen Exposition starben im Untersuchungszeitraum 531 Arbeiter an Leukämie, 814 an Lymphomen und 293 an einem multiplen Myelom, wie die Forscher berichten. Das aber war deutlich mehr als erwartet. Denn in der breiten Bevölkerung liegt die Leukämierate bei 4,3 pro 10.000 Menschen - es hätten daher nur 134 Arbeiter an dem Blutkrebs sterben dürfen.

Linearer Trend selbst bei niedrigsten Dosen

Nähere Auswertungen zeigten, dass innerhalb der Studienteilnehmer das Leukämierisiko linear mit der radioaktiven Belastung stieg. "Der Trend im zusätzlichen relativen Risiko lässt sich gut durch eine einfache lineare Funktion der kumulierten Dosis beschreiben", so Levraud und seine Kollegen. Am stärksten sei dieser Zusammenhang bei der chronischen myeloiden Leukämie zu erkennen, aber auch bei akuter Leukämie und verschiedenen Lymphomformen.

Der lineare Trend lasse sich selbst bei sehr niedrigen Strahlendosen fortsetzen, so die Forscher. Drückt man es mathematisch aus, dann erhöhte sich für jede 10 Millisievert an kumulierter Strahlendosis das Leukämierisiko um 0,002 Prozent. "Unsere Ergebnisse liefern damit direkte Schätzwerte für das Risiko pro erhaltener Strahlendosis - und das in Bereichen, die den typischen Belastungen in der Umwelt, bei medizinischen Anwendungen und anderen Tätigkeiten entsprechen", betonen Levraud und seine Kollegen.

"Klar positiver Zusammenhang"

"Wir haben damit einen positiven Zusammenhang zwischen der kumulativen Dosis ionisierender Strahlung bei Erwachsenen und dem Tod durch Leukämie selbst bei niedrigen Dosen nachgewiesen", sagen Levraud und seine Kollegen. Dieser Zusammenhang verschwand auch nicht, wenn die Forscher die Länder einzeln betrachteten oder andere Einflussfaktoren wie den sozioökonomischen Status der Teilnehmer berücksichtigten. Und noch etwas zeigt die Studie: Entgegen landläufiger Annahme ist eine anhaltende, niedrige radioaktive Belastung genauso schädlich wie ein kurzzeitige akute Verstrahlung.

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© UN Scientific Committee on the Effects of Atomic RadiationDie Strahlenbelastung hat in den letzten Jahren zugenommen.
"Das ist eine solide, ungewöhnlich umfangreiche Studie zu den Folgen einer lang anhaltenden, sehr niedrigen Belastung mit ionisierenden Strahlen", kommentiert Jørgen Olsen vom dänischen Krebsforschungszentrum in Kopenhagen im Fachmagazin "Nature". Die Ergebnisse unterstreichen, dass es keine ungefährlichen Dosen der Strahlung gibt. Selbst leicht erhöhte Hintergrundwerte können demnach schon ausreichen, um das Leukämierisiko zu erhöhen - wenn auch auf den Einzelnen bezogen nur minimal.

Auch Radiologie-Angestellte potenziell gefährdet

Für die Arbeiter in Atomkraftwerken wird sich dadurch vermutlich kaum etwas ändern. Die Grenzwerte der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP für die maximale Strahlenbelastung liegen für sie bei maximal 20 Millisievert pro Jahr in einem Fünfjahreszeitraum und bei einem Jahresmaximum von 50 Millisievert.

Die Studie weckt aber die Aufmerksamkeit für eine weitere, potenziell gefährdete Berufsgruppe: Menschen, die in der Radiologie arbeiten. "Diese medizinischen Angestellten sind ebenfalls niedrigen Dosen von Röntgen- oder Gammastrahlen ausgesetzt", erklären die Forscher. "Bisher gibt es keine genauen Abschätzungen ihres dosisabhängigen Leukämie-Risikos, weil es keine Dosimeter-Daten für diese Berufsgruppe gibt. Eine frühere Studie hatte allerdings bereits festgestellt, dass Leukämie bei Personen mit mehr als 30-jähriger Tätigkeit in der Radiologie doppelt so häufig vorkommt wie im Bevölkerungsdurchschnitt.

(Lancet Haematology, 2015; doi: 10.1016/S2352-3026(15)00094-0)
(The Lancet/ Nature, 01.07.2015 - NPO)