Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, fordert finanzielle Entschädigungen und therapeutische Hilfen für die Opfer sexuellen Missbrauchs. In den vergangenen Monaten haben sich 15 000 Betroffene bei ihrer Stelle gemeldet.

Die Missbrauchsfälle an Schulen beunruhigen viele Eltern. Für sie stellt sich vor allem die Frage, wie sie einen möglichen Missbrauch bemerken können. Wenn Kinder ein Internat besuchen, ist dies für Eltern oft noch deutlich schwerer. Ein Psychologe gibt Ratschläge. Wie entdeckt man, ob ein Kind missbraucht wird?

Der älteste Anrufer, der sich bei der unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch gemeldet und seine Geschichte erzählt hat, war 89 Jahre alt - der jüngste Anrufer erst sechs Jahre. Bei Christine Bergmann, der früheren SPD-Familienministerin, sind in den vergangenen Monaten 15 000 Anrufe und Briefe von Menschen eingegangen, die als Kinder sexuell missbraucht wurden.

Bergmann hat Tausende Schicksalsberichte gehört und gelesen. Gestern legte sie ihren 300 Seiten starken Abschlussbericht vor, in dem sie Hilfen und Wiedergutmachungen für die Opfer fordert. "Viele Betroffene leiden auch Jahre und Jahrzehnte nach dem Erlebten noch an den Folgen des Missbrauchs", betonte Bergmann. Ihr geht es nicht nur um eine materielle Gutmachung für die Opfer, sondern auch darum, dass die Verbrechen benannt und anerkannt werden.

Missbrauchsbeauftragte fordert mehr Hilfen

Ihre wichtigsten Forderungen lauten:
  • Rechtsanspruch auf Fachberatung für die Opfer.
  • Übernahme von Therapiekosten für die Opfer.
  • Entschädigung in einer Höhe, in der auch Schmerzensgeld gezahlt wird. Die individuelle Höhe soll eine Clearingstelle festlegen. Wenn der Missbrauch in Institutionen stattgefunden hat, sollen diese dafür aufkommen. Für die Opfer von familiärem Missbrauch soll ein Fonds eingerichtet werden.
  • Verjährungsfristen für Schadensersatz sollen auf 30 Jahre steigen, gerechnet ab dem 21. Lebensjahr des Opfers.
  • Die Anlaufstelle soll eine dauerhafte Einrichtung werden.
Welche Forderungen Bergmanns tatsächlich umgesetzt werden, ist noch offen. Der "Runde Tisch Missbrauch" der Bundesregierung will darüber am 6. Juni beraten. "Die Empfehlungen sind eine gute Grundlage für die Gespräche am Runden Tisch und gehen in die richtige Richtung. Wir werden sie zügig beraten", sagte Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) unserer Redaktion.

Zugleich sprach sie sich für eine Fortsetzung der Arbeit der Missbrauchsbeauftragten aus. "Die Anlaufstelle hat großartige Arbeit geleistet und den Opfern wichtige Hilfestellung angeboten. Deshalb spricht vieles dafür, dass sie ihre Arbeit fortsetzen sollte." Die Entscheidungen der Bundesregierung dazu sollen bis Ende des Jahres fallen.

Der runde Tisch und die Anlaufstelle einer Missbrauchsbeauftragten waren nach dem Bekanntwerden zahlreicher Missbrauchsfälle vor allem in kirchlichen Einrichtungen ins Leben gerufen worden. Bergmann verwies darauf, dass es in Europa einmalig sei, auch die familiären Fälle bei der Aufarbeitung und Entschädigung von Missbrauch einzubeziehen.

Der Abschlussbericht basiert neben der Auswertung der Opfer-Schilderungen auf wissenschaftlichen Studien und Befragungen von Psychotherapeuten. Bei vielen Betroffenen, die sich bei der Anlaufstelle meldeten, war es nicht der erste Versuch, auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen.

Ihnen sei in der Vergangenheit aber oft nicht geglaubt und nicht geholfen worden, sagte der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, der die wissenschaftliche Begleitforschung leitete. Ein Großteil der Opfer sei mehrfach und über einen langen Zeitraum missbraucht worden. In Institutionen seien häufiger Jungen die Opfer, in der Familie häufiger Mädchen.

"Die meisten Opfer waren zum Zeitpunkt des Missbrauchs unter 14 Jahre alt", heißt es in dem Bericht. In 87 Prozent der Fälle seien die Täter männlich, in sieben Prozent der Fälle weiblich gewesen. In sechs Prozent der Fälle benannten die Opfer beide Geschlechter als Täter.

Die katholische Deutsche Bischofskonferenz reagierte zurückhaltend auf den Bericht und die Forderungen der Missbrauchsbeauftragten. Man habe bereits vor Monaten ein umfassendes Konzept für Hilfe und Entschädigung vorgelegt, sagte ein Sprecher.

Seit dem 10. März seien 138 Anträge auf Entschädigung positiv beschieden worden. Insgesamt seien bislang rund 400 Anträge gesichtet worden. Bei den Entschädigungszahlungen handele es sich größtenteils um Beträge von jeweils 5000 Euro, "manchmal weniger und manchmal auch mehr", betonte der Sprecher.

Kosten für Therapien zugunsten von Missbrauchs-Opfern übernimmt die Kirche bereits seit Längerem. Der Sprecher der Bischofskonferenz verwies auf die eigens eingerichtete, stark in Anspruch genommene telefonische Hotline.

Durch die Kontaktaufnahmen wisse die Kirche, dass es vielen Opfern tatsächlich um mehr gehe als um finanzielle Entschädigung. "Viele wollen einfach ihre Geschichte erzählen, wollen angehört werden und Therapiemöglichkeiten aufgezeigt bekommen."