Stellen Sie sich ein Lebewesen ohne Knochen, dafür aber mit drei Herzen vor, dessen acht Tentakelarme Gehirne mit mehr als 500 Millionen Nervenzellen beinhalten, das jeden dieser Arme bei Verlust vollständig regenerieren kann und zudem über eine erstaunlich hoch entwickelte Intelligenz verfügt. Darüber hinaus kann dieses Lebewesen willentlich seine Farbe und die Struktur seiner Körperoberfläche an die des Unter- und Hintergrunds anpassen und dekoriert seine Höhle zudem mit Trophäen seiner Opfer. So bizarr dieses Wesen auch erscheint, seine Heimat muss nicht zwangsläufig ein fremder Planeten sein, sondern es bewohnt tatsächlich unsere irdischen Meere. Die Rede ist vom Oktopus, dem gemeinen Kraken.

Bild
© Anneli Salo / CC BY-SA 3.0 (WikimediaCommons)Ein Krake (Octopus vulgaris) im Aquarium
Okinawa (Japan) - „Mit allen seinen teils bizarren Fähigkeiten und Eigenschaften stellt der Oktopus die Spitze einer evolutionären Linie intelligenter Lebewesen auf der Erde, alternativ zum Menschen dar“, stellen die Forscher um Dr. Sydney Brenner von der Okinawa Institute of Science and Technology Graduate University (OIST) und Kollegen der University of Chicago und der University of California, Berkeley fest. Es handelt sich bei Kraken (Oktopoden) um eine Gruppe von Organismen, die sich einst aus einem langsamen, schneckenähnlichen Vorfahren hin zu aktiven und überaus erfindungsreichen Jägern entwickelt haben.

Selbst wenn sich auch heutige Seeschnecken, Austern und andere Muscheltiere aus diesem gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben, so haben Kraken doch geradezu „außerirdische Fähigkeiten“ entwickelt, so die Forscher, deren Geheimnisse in dem nun von den Wissenschaftlern entzifferten Genom zu finden sind.

Bild
© gemeinfrei (aus: The New Student’s Reference Work) Anatomische Darstellung eines Kraken
Wie die Wissenschaftler aktuell im Fachjournal „Nature“ (DOI: 10.1038/nature14668) berichten, gleiche das Kraken-Genom einerseits zwar in vielen Aspekten dem anderer wirbellosen Meerestiere, doch zugleich offenbare es auch unerwartete Merkmale, die einen Schlüssel zum Verständnis über die Herkunft und Funktion ihres einzigartiges Nervensystems darstellen.

„Der Krake erscheint zugleich aber derart unterschiedlich zu allen anderen Tieren und selbst zu jenen, mit denen er verwandt ist, dass der britische Zoologe Martin Wells ihn sogar schon als ‚Außerirdischen‘ bezeichnet hat“, kommentiert Clifton Ragsdale von der University of Chicago. „In diesem Sinne könnte man also durchaus sagen, dass unsere Studie die erste Beschreibung der Sequenzierung des Genoms eines Außerirdischen darstellt.“

Tatsächlich sind die Hirne von Kraken komplexe Varianten der grundlegenden Hirne von Wirbellosen - besitzen zugleich aber eine völlig andere Organisationsstruktur als jene, wie sie bei Wirbeltieren und dem Menschen zu finden sind. „Kraken erschienen vor mehr als dreihundert Millionen Jahren in den urzeitlichen Meeren und waren die ersten intelligenten Lebewesen auf unserem Planeten“, erläutert Brenner.

Das Oktopus-Genom beinhaltet mehrere große Genfamilien, die den Schlüssen dafür beinhalten könnten, wie das komplexe Gehirn der Tiere vernetzt ist. Diese Genfamilien sind zwar auch bei anderen Tieren für die Entwicklung des Gehirns verantwortlich, finden sich bei Kraken jedoch in wesentlich ausgeprägterer Form. Wie genau ihre Aufgaben verteilt sind, bleibt auch nach der Kodierung der Gensequenz der Kraken teilweise unbekannt.

Zugleich fanden die Forscher jedoch hunderte anderer Gene, die zwar üblich für Kraken sind, sich aber nicht bei anderen Tieren finden. Einige dieser Gene ermöglichen den Kraken ihre Verfärbung und Verformung ihrer Haut zur Tarnung. Einige der Entdeckungen der Wissenschaftler stellen zudem Teile unseres Wissens über die genomische Reorganisation durch Evolution in Frage: Während die enorme Größe des Oktopus-Genoms bislang als Ergebnis ganzer Genom-Duplikationsereignisse betrachtet wurde, wie sie durch Hinzufügen genetischen Materials auch zum umfangreichen Genom und der evolutionären Entwicklung von Wirbeltieren - und damit auch des Menschen - beigetragen haben, zeigt die nun vorgelegte Analyse des Kraken-Genoms keinerlei Hinweise auf derartige Ereignisse in der evolutionären Geschichte der Tiere.

„Wir Menschen denken gerne, dass wir nach evolutionären Begriffen einzigartig sind, aber Kraken könnten uns aufzeigen, dass das eigentlich gar nicht stimmt“, so die Forscher. Ein Grund für die Faszination der Wissenschaftler an den Kraken ist der Umstand, dass ihr Hirn derart hochgradig organisiert wurde, dass sie dazu in der Lage sind, unglaublich komplexe Aufgaben zu lösen, ohne dabei jedoch die Prinzipien eines Wirbeltier-Hirns zu übernehmen.

Weitere Untersuchungen sollen nun zeigen, ob sich die Bausteine des Nervensystems der Kraken radikal von dem an Land lebender Wirbeltiere unterscheiden, wie es die bisherige Analyse nahelegt.

Dies könnte nicht ganz so unvorstellbar sein, wie es sich zunächst anhört: „Obwohl sich Kraken in einem völlig anderen Ökosystem entwickelt haben, so kann die Evolution zahlreiche Lösungen für ein Problem finden. Wenn tatsächlich Ähnlichkeiten gefunden werden können, so würde dies unsere Vorstellung von der Entstehung intelligenten Lebens auch sonst wo im Universum mit einem Schlag ändern müssen“, so die Forscher abschließend.

Hintergrund: Evolutionäre Sackgasse und Entwicklungsschritt

Der Grund, warum sich Kraken trotz ihrer enormen Intelligenz nicht in ähnlicher Weise weiterentwickelt haben wie wir Menschen liegt in einer evolutionären Sackgasse der Natur: Während der Pflege ihrer nur einmal im Leben angelegten Eier stellen Krakenweibchen die Nahrungsaufnahme nahezu vollständig ein, verausgaben sich jedoch fast vollständig und verhungern in der Regel über diese Brutpflege. Aus diesem Grund kommt es schlichtweg nicht zu einer Weitergabe von „Wissen“ wodurch jede neue Krakengeneration zwar über besagt hohe Intelligenz verfügt, aber in deren Entwicklung und Ausprägung immer wieder von Null beginnen muss.

Allerdings konnte in zahlreichen Experimenten nachgewiesen werden, dass Kraken durchaus und in hohem Maße zum Lernen von Artgenossen in der Lage sind. Vor Capri haben Krankenforscher kürzlich zudem beobachtet, dass die normalerweise als Einzelgänger lebende Tiere nun nicht mehr alleine leben. Zudem hat es den Anschein, als würden hier die jungen Oktopoden ihre älteren Artgenossen beobachten - von ihnen lernen (s. Video).

Wissenschaftler vermuten deshalb, dass sich hier möglicherweise ein wichtiger Evolutionsschritt der Kraken vollzieht, der den Teufelskreis bricht, in dem keine Generation von der vorigen lernen kann. Obwohl sie nicht verbal miteinander kommunizieren können, interagieren sie miteinander. Doch keine Angst. Bis Kraken einer menschenartige Form der Intelligenz entwickeln, benötigt es wahrscheinlich einige hunderttausend Jahre. Der Anfang jedoch, scheint gemacht.