Chile Erdbeben
Die chi­le­ni­sche Regie­rung über­ließ den Wie­der­aufbau dem freien Markt. Nach über einem Jahr sind fast keine Woh­nungen wieder aufgebaut

Chile ErdebebenVer­zweif­lung und Unmut wachsen in den Regionen, die das Erd­beben im Februar letzten Jahres am schlimmsten traf: Zehn­tau­sende Men­schen wohnen nach wie vor unter unwür­digen Bedin­gungen ohne viel Hoff­nung auf eine Bes­se­rung der Situa­tion. Eine staat­liche Wie­der­auf­bau­po­litik exis­tiert fak­tisch nicht  -  die rechte Regie­rung unter Prä­si­dent Sebas­tian Piñera hatte zum Amts­an­tritt kurz nach dem Erd­beben beschlossen, Groß­un­ter­nehmen mit dem Wie­der­aufbau zu beauftragen.

Damit wurde nicht nur jede demo­kra­ti­sche Par­ti­zi­pa­tion aus­ge­schlossen, es ver­schärften sich die ohnehin schon starken sozialen Ungleich­heiten in der chi­le­ni­schen Gesell­schaft. Die ein­zige Hoff­nung liegt in der Mobi­li­sie­rung von unten.

Das Stadt­viertel Santa Ana nahe dem Stadt­zen­trum von Talca bietet ein tristes Bild: Halb ein­ge­fal­lene Häuser und Grund­stücke, auf denen nur Holz­ver­schläge und pro­vi­so­ri­sche Behau­sungen stehen. Marco Peña lebt seit dem Erd­beben in einem Wohn­con­tainer, die Küche hat er not­dürftig im Hof auf­ge­baut, seine kleine Werk­statt in einem Ver­schlag unter­ge­bracht. Marco ist füh­render Akti­vist im Komitee Sin Tierra („Ohne Boden“), in dem sich die Nach­ba­rInnen orga­ni­siert haben, die kein eigenes Grund­stück besitzen und als Mie­te­rInnen im Viertel leben.

Sie haben keinen eigenen Anspruch auf einen staat­li­chen Wiederaufbau-​Zuschuss. Wenn die Grund­stücke ver­kauft werden, müssen die Bewoh­ne­rInnen weg­ziehen. „Wir wollen aber unser barrio erhalten“, sagt Marco mit Nach­druck. Das Komitee ver­han­delt dafür mit den Eigen­tü­me­rInnen der Grund­stücke und sucht gleich­zeitig mög­liche Inves­to­rInnen für den Neubau der Häuser. Zudem kämpfen die Nach­ba­rInnen darum, in ein Pro­gramm zur Erhal­tung der bar­rios auf­ge­nommen zu werden. Warum sie nicht Druck auf den Staat aus­üben, die Grund­stücke zu kaufen? „Das dauert viel zu lange“, meint Marco, die Leute bräuchten aber schnell eine Lösung.

„Wir sind alle sehr depri­miert“, beginnt Carmen Cruz das Gespräch. Sie ist Prä­si­dentin des Nach­bar­schafts­rats von Santa Ana. Und sie wie­der­holt einmal mehr das, was man inzwi­schen von allen Betrof­fenen und Unter­stüt­ze­rInnen hört: „Es gibt keinen Wie­der­aufbau.“ Allein im Stadteil Santa Ana bean­tragten 160 Fami­lien staat­liche Zuschüsse für Repa­ra­turen oder den Neubau der Häuser. Pas­siert ist bisher nichts, die Zuschüsse für die Repa­ra­turen rei­chen gerade einmal für das Not­wen­digste, wie etwa ein neues Dach.

Die zustän­digen regio­nalen Insti­tu­tionen des Woh­nungs­mi­nis­te­riums werden von den Betrof­fenen als untätig wahr­ge­nommen. Beschwerden würden abge­blockt, den Men­schen mit Igno­ranz begegnet, berichtet Carmen. „Außer einem Abge­ord­neten war bisher nie­mand hier, nie­mand hat das Viertel besich­tigt. Die inter­es­siert über­haupt nicht, wie die Situa­tion hier aussieht.“

Die Zwi­schen­bi­lanz der rechten Regie­rung unter Staats­prä­si­dent Piñera zum Wie­der­aufbau jedoch liest sich als Erfolgs­ge­schichte. Auf über 60 Seiten wird nahezu jede Maß­nahme und Aus­gabe detail­liert auf­ge­listet. Die Regie­rung hatte nach dem Erd­beben voll­mundig ver­spro­chen, dass sie den Wie­der­aufbau ohne inter­na­tio­nale Hilfe allein stemmen werde und dafür einen Wie­der­auf­bau­plan für die Dauer der Amts­zeit vor­ge­legt. Für die Repa­ratur und den Neubau von Wohn­häu­sern wurden ver­schie­dene staat­liche Zuschüsse beschlossen. Im dafür eröff­neten Register haben sich 285.000 Fami­lien ein­tragen lassen, deren Häuser beim Erd­beben beschä­digt oder zer­stört worden waren. Die Regie­rung spricht aber nur von 220.000 beschä­digten oder zer­störten Wohnungen.

Die Dif­fe­renz ergibt sich aus der Tat­sache, dass Zehn­tau­sende Men­schen aus den unter­schied­lichsten Gründen keinen Anspruch auf einen Zuschuss haben, bei­spiels­weise wenn durch unge­re­geltes Erbe keine Haus­ei­gen­tü­me­rInnen aus­zu­ma­chen sind oder wenn Fami­lien bereits früher einen staat­li­chen Zuschuss zum Bau ihres Hauses bekommen haben.

Der Bericht zeigt deut­lich die Prio­ri­täten des Wie­der­auf­baus. So wird die ökono­misch wich­tige Ver­kehrs­in­fra­struktur wie Brü­cken, Auto­bahnen und Flug­häfen im Gegen­satz zur sozialen Infra­struktur und zum Wohn­raum als hun­dert­pro­zentig wie­der­her­ge­stellt ausgewiesen.

Eine Erfolgs­mel­dung der Regie­rung ist auch die Übergabe von 80.000 Not­un­ter­künften im letzten Jahr. Das sind aller­dings weit weniger, als tat­säch­lich gebraucht wurden. So erzählt Pau­lina Elis­setche, Abge­ord­nete im Stadtrat von Talca, dass für die Stadt nur etwa die Hälfte der eigent­lich benö­tigten Not­un­ter­künfte über­geben wurden. „Die Regie­rung hat ein­fach gesagt, dass es dafür jetzt kein Geld mehr gibt“, berichtet Elis­setche. Im Wider­spruch dazu steht, dass sie einen Auf­preis für den Bau der Not­un­ter­künfte bezahlte, mit dem die drei größten Baumaterial-​Produzenten des Landes beauf­tragt worden waren. Diese nutzten die Gele­gen­heit, um die Preise für Bau­ma­te­ria­lien dras­tisch zu erhöhen. Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tionen (NRO), die sich beim Aufbau enga­gierten, zahlten sogar das Dop­pelte des ursprüng­li­chen Preises. Monate später wurde das durch einen Unter­su­chungs­be­richt auf­ge­deckt und in den Medien skandalisiert.

Den Auf­trag zur Erstel­lung der Pläné für den Wie­der­aufbau der Städte Talca, Con­cep­ción und Con­sti­tu­ción vergab die Regie­rung eben­falls an drei Groß­un­ter­nehmen, die das als „Gratis-​Dienstleistung“ ange­boten hatten. Nicht nötig zu erwähnen, dass sie dieses Angebot nicht aus Men­schen­freund­lich­keit, son­dern aus klarem ökono­mi­schen Kalkül heraus unter­breitet hatten. Aus­schrei­bungen für die Ver­gabe der Auf­träge hatte es im Vor­feld nicht gegeben. Die Ver­ant­wor­tung für eine ori­ginär poli­ti­sche und demo­kra­tisch zu gestal­tende Auf­gabe wurde so mit einem Hand­streich an einige wenige Wirt­schafts­mo­no­po­listen übergeben.

Chile gilt als „Modell­land“ des real exis­tie­renden Neo­li­be­ra­lismus. Ebenso modell­haft zeigt sich in dem Anden­staat, welche sozialen, poli­ti­schen und ökono­mi­schen Nach­beben auf ein solch schweres Erd­beben folgen, wenn einzig die Gesetze des Marktes gelten und demo­kra­ti­sche Mecha­nismen außer Kraft gesetzt sind.

An der Stadt Talca lassen sich diese Nach­beben exem­pla­risch nach­voll­ziehen: Ein Ort, in dem es  -  wie überall in Chile  -  in den letzten 40 Jahren weder eine poli­ti­sche Stadt­pla­nung noch eine Woh­nungs­po­litik gab, die sich an den Bedürf­nissen der Bewoh­ne­rInnen ori­en­tierte. Das urbane Zen­trum von Talca sowie die umlie­genden Viertel sind am stärksten von den Folgen des Erd­be­bens betroffen. Die Men­schen, die dort leben, haben zum Teil alles ver­loren. Mit den Häu­sern wurden viel­fach auch Werk­stätten oder Läden und damit die Exis­tenz­grund­lage vernichtet.

Die NRO Sur­maule, die kri­ti­sche Sozi­al­for­schung auf regio­naler Ebene betreibt und sich poli­tisch für die Stär­kung der Zivil­ge­sell­schaft enga­giert, wird für Talca eine eigene Bilanz ver­öf­fent­li­chen. Diese wird ebenso detail­liert aus­fallen wie die der Regie­rung, nur wird sie auf­de­cken, wie die Rea­lität hinter der offi­zi­ellen Wiederaufbau-​Rhetorik wirk­lich aussieht.

Surmaule-​Mitarbeiter Fran­cisco Lete­lier erzählt, dass es bei 8.000 betrof­fenen Haus­halten erst für ein paar hun­dert Fami­lien Lösungen gibt. Die Men­schen, deren Häuser nicht mehr exis­tieren oder nicht bewohnbar sind, leben bei Fami­li­en­an­ge­hö­rigen oder in Not­un­ter­künften  -  zum Teil ohne Basis­in­fra­struktur wie flie­ßendes Wasser. Die Not­be­hau­sungen sind ein­fache, durch­schnitt­lich 18 bis 24 Qua­drat­meter große Holz­häuser mit schlechter Däm­mung, in denen oft ganze Fami­lien leben. Die Bewoh­ne­rInnen müssen sich nun bereits auf den zweiten kalten Winter in diesen Not­be­hau­sungen einrichten.

Eine wei­tere dra­ma­ti­sche Ent­wick­lung ist der staat­li­chen Woh­nungs­po­litik und der Immo­bi­li­en­spe­ku­la­tion geschuldet: Die Wiederaufbau-​Zuschüsse des Staates werden nicht an die Betrof­fenen son­dern an die Bau­firmen gezahlt und diese bauen auf den bil­ligsten Grund­stü­cken  -  in der Peri­pherie. Gleich­zeitig drängen Immo­bi­li­en­firmen Grund­stücks­ei­gen­tü­me­rInnen im Stadt­zen­trum zum Ver­kauf weit unter Markt­wert. Sie spe­ku­lieren darauf, dass der Boden­preis im Zen­trum Talcas in den nächsten Jahren nach oben schnellen wird. Bisher haben wenige Eigen­tü­me­rInnen ver­kauft und es exis­tieren ledig­lich Pläné für große Wohn­kom­plexe am Stadt­rand. Aber der Druck ist groß, vor allem auf die sozial Ver­letz­lichsten: arme Fami­lien, allein­er­zie­hende Mütter, alte Men­schen. Die Ver­drän­gung wird die Sozi­al­struktur in den betrof­fenen Vier­teln kom­plett ver­än­dern, die bisher noch ver­gleichs­weise durch­mischt ist. „Die meisten Men­schen leben seit Gene­ra­tionen hier.

Die erste Gene­ra­tion hat die Häuser selbst auf­ge­baut“, erzählt Fran­cisco Lete­lier. „Und jetzt sollen sie weg.“ Dieser Ver­drän­gungs­pro­zess bedeute eine „Säu­be­rung“ des Stadt­zen­trums von den Armen, erklärt Fran­cisco Lete­lier und ver­weist darauf, dass dies nur eine Fort­set­zung der Politik der Zeit vor dem Erd­beben ist: „In der staat­li­chen Woh­nungs­po­litik exis­tieren bar­rios schlicht nicht. Sie funk­tio­niert einzig und allein über Zuschüsse vom Staat und den Markt. Wie exis­ten­ziell soziale Netz­werke für die Men­schen sind, wird kon­se­quent igno­riert. Die Woh­nungs­po­litik inter­es­siert sich nicht für die Men­schen son­dern dafür, dass der Markt gut funk­tio­niert.“ Auch die soziale Infra­struktur im Stadt­zen­trum ist in Gefahr.

So wurde eine Schule zer­stört, die die Kinder aller umlie­genden Viertel besuchten und die somit sozial sehr durch­mischt und inte­grativ war. „Um die Schule gab es im Stadtrat großen Streit mit dem Bür­ger­meister“, erzählt Pau­lina Elis­setche. „Und wir kämpfen immer noch um den Wie­der­aufbau.“ Ginge es nach dem Bür­ger­meister, würden die Schü­le­rInnen auf ver­schie­dene Schulen am Stadt­rand ver­teilt werden, weil der Wie­der­aufbau zu teuer sei. An die Immo­bi­li­en­firmen habe der Bür­ger­meister gleich­zeitig die Parole aus­ge­geben: Wer hier bauen will, kann bauen, wie er will, so Fran­cisco. Und so schießen in der eins­tigen Alt­stadt heute Büro­ge­bäude und Hoch­bauten aus Beton aus dem Boden.

Nach dem Erd­beben wurde von Uni­ver­si­täten, der Archi­tek­ten­schule, einigen NRO und der Gemein­de­ver­wal­tung ein Runder Tisch ein­be­rufen, der im Dialog mit den Nach­ba­rInnen Vor­schläge zum Wie­der­aufbau erar­beiten sollte. Für diese Arbeit gab es ein offi­zi­elles Mandat des Bür­ger­meis­ters. Die Vor­schläge, die unter anderem die Bil­dung eines Gre­miums mit Bür­ger­be­tei­li­gung beinhal­teten, fanden im April 2010 im Stadtrat Zustimmung.

Wenige Tage später aber wurde von der Zen­tral­re­gie­rung und dem Bür­ger­meister der Auf­trag für den Wie­der­auf­bau­plan an ein Groß­un­ter­nehmen ver­geben. Demo­kra­ti­sche Ent­schei­dungs­pro­zesse wurden damit für passé erklärt.

Die Bewoh­ne­rInnen und Bür­ger­in­itia­tiven akzep­tierten diese Ent­schei­dung nicht und führten den Runden Tisch weiter, orga­ni­sierten Ver­samm­lungen in den Vier­teln und schließ­lich große Bür­ge­rIn­nen­rat­schläge. So ent­stand die Bür­ger­be­we­gung Talca con todos y todas (Talca mit Allen). Die Basis für die Orga­ni­sie­rung der Bür­ge­rInnen wurde in Talca schon vor dem Erd­beben mit dem poli­ti­schen Wei­ter­bil­dungs­pro­gramm Escuela de Líderes („Schule für Anführer“) geschaffen.

Dieses Pro­gramm für Mul­ti­pli­ka­to­rInnen sozialer Bewe­gungen wurde 2003 von dem unab­hän­gigen Sozi­al­for­schungs­in­stitut Sur Cor­por­a­cion aus San­tiago ins Leben gerufen und wird zusammen mit Sur­maule orga­ni­siert. Das Modell­pro­jekt hat viel dazu beige­tragen, dass die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­ons­pro­zesse in Talca besser funk­tio­nieren als in anderen Städten. Nicht zuletzt ist dies auch der Ver­dienst der NRO Sur­maule, die durch kon­krete soziale und poli­ti­sche Arbeit die Men­schen in den Stadt­vier­teln unter­stützt, kri­ti­sche Öffent­lich­keit zum Thema Wie­der­aufbau her­stellt und mit dem Woh­nungs­mi­nis­te­rium verhandelt.

Es bewegt sich auch lan­des­weit einiges: In Talca, Con­sti­tu­ción, Con­cep­ción, San­tiago, Tal­ca­huano und anderen Städten hat sich Anfang des Jahres 2011 aus ver­schie­denen Nach­bar­schafts - und Bür­ger­in­itia­tiven die Bewe­gung für einen gerechten Wie­der­aufbau for­miert. Unter dem Motto „Ein Jahr ohne Wie­der­aufbau“ wurde zum Jah­restag des Erd­be­bens ein Akti­onstag orga­ni­siert, um den For­de­rungen nach wür­digem Wohn­raum und dem Wie­der­aufbau der öffent­li­chen Infra­struktur Aus­druck zu ver­leihen. Die Bewe­gung for­dert Par­ti­zi­pa­tion der Bür­ge­rInnen beim Wie­der­aufbau ein und arbeitet selbst Vor­schläge dazu aus. Regel­mäßig werden lan­des­weite Treffen abge­halten, die eine Platt­form für den Aus­tausch zwi­schen den ver­schie­denen lokalen Initia­tiven bieten. Außerdem werden Demons­tra­tionen und Aktionen organisiert.

Die Akti­vis­tInnen von Sur­maule sehen das Erd­beben wie viele andere als eine Gele­gen­heit zur Ver­än­de­rung. So for­mu­liert Surmaule-​Mitarbeiterin Rocio Rod­ri­guez kämp­fe­risch: „Bisher sind alle Ent­schei­dungen von oben getroffen worden, wir müssen Druck von unten auf­bauen. Die Situa­tion ist eine Chance, sich ein­zu­mi­schen in das, was in der Stadt passiert.“

Quelle:  -  Lateinamerika Nachrichten  -  Aus­gabe Nr.444 vom Juni 2011  -  Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin Kerstin Schwierz und der Redak­tion von LAN. Besten Dank!