Atomkraftwerk
© DPAAKW Biblis: Fukushima hinterließ Spuren in den juristischen Gutachten
Die zwei größten AKW-Besitzer klagen vor dem Verfassungsgericht gegen den Atomausstieg. Sie fordern Schadensersatz. Doch es geht nicht nur ums Geld. Die Fukushima-Katastrophe hat die Maßstäbe für die Einschätzung des Restrisikos bei der Kernenergie verschoben - und so die Lebenslüge der Atomindustrie zerstört.

Das folgenreichste Erdbeben der Weltgeschichte ereignete sich am 1. November 1755 morgens kurz vor zehn. Die Erdstöße zerstörten die blühende Stadt Lissabon gerade, als die frommsten der Bewohner in der Kirche waren, der anschließende Tsunami, der Portugals Küste heimsuchte, forderte Zehntausende Todesopfer und riss ganze Stadtteile und Dörfer mit sich. Die Frage der Überlebenden, wie Gott so großes Unglück ausgerechnet am Allerheiligentag zulassen konnte, war das Öl in den Flammen der Aufklärung, die bald in ganz Europa züngelten und schließlich, nur 34 Jahre später, mit der Französischen Revolution die Zeitenwende zu Demokratie und Menschenrechten brachten.

Das Erdbeben, das am 11. März 2011 vor Japan einen Tsunami und damit eine Kernschmelze in den Atomanlagen in Fukushima auslöste, hat nicht minder schwere Verheerungen in der blühenden Hightech-Hochkultur Japans ausgelöst. Und schon in den nächsten Monaten könnte ausgerechnet im fernen Deutschland für die Geschichtsbücher aktenkundig werden, dass die weltweiten politischen Folgen dieser Katastrophe denen von 1755 kaum nachstehen.

Die zwei größten deutschen Atomkraftwerkbesitzer, E.on und RWE, wollen es wissen und vors Bundesverfassungsgericht ziehen, weil der Schock von Fukushima zum deutschen Atomausstieg geführt hat - und der Atomausstieg zur Stilllegung der Atomkraftwerke führen wird. Nun wollen sie Entschädigung in zweistelliger Milliardenhöhe - aus Steuergeldern. Für die Verfassungsrichter eine Herausforderung, die dem alten Streit um Gottes Güte gleichkommt. Die neue Jahrhundertfrage lautet: Bis zu welcher Grenze kann eine Gesellschaft um des Wohlstands willen das Risiko einer Atomkatastrophe hinnehmen?

Vordergründig geht es um Geld. Das Atomausstiegsgesetz, das der Bundestag am Donnerstag beschließen soll, sieht das zeitlich gestaffelte Aus für alle deutschen Meiler vor. Die ersten stehen jetzt schon still - der letzte soll 2022 abgeschaltet werden. E.on ließ sich ein Rechtsgutachten schreiben, das den Atomkraftwerkseigentümern empfiehlt, sich den Verkehrswert ihrer nun nutzlosen Anlagen von der Bundesregierung erstatten zu lassen - als Entschädigung für das gesetzlich verordnete Erlöschen der Betriebsgenehmigungen. "Das wird teuer", ahnt der CDU-Bundestagsabgeordnete und Rechtsanwalt Siegfried Kauder. Maßstab für eine Klägerforderung könnte der entgangene Atomstrom-Gewinn sein - nach Expertenschätzung ein Betrag um die 15 Milliarden Euro.

Doch vor der Geldforderung steht der Weg nach Karlsruhe: Vorm Bundesverfassungsgericht müssen sich die Kernkraftwerksbetreiber bestätigen lassen, dass die gesetzliche Atomwende ein verfassungswidriger Eingriff in ihr Grundrecht auf Eigentum sei. Das Eigentum an den Spaltanlagen ist von der Verfassung ebenso geschützt wie das an den Unternehmen, die solche Anlagen betreiben. Allerdings erlaubt Artikel 14 des Grundgesetzes dem Gesetzgeber, "Schranken" des Eigentumsgebrauchs aus Gründen des "Wohls der Allgemeinheit" zu ziehen. Und schon stößt das Recht an die Jahrhundertfrage: Erfordert das Wohl der Allgemeinheit wirklich einen derart rabiaten Zugriff auf Atomanlagen, die jahrzehntelang ohne GAU das Volk mit billiger Energie versorgt haben? Kann denn das gemeine Wohl von gestern heute Un-Wohl sein?

Welche Atomgefahren berühren das Gemeinwohl ernsthaft?

Es kann, hat die Kanzlerin gleich gesehen. Denn Fukushima, sagte sie bald nach dem Unglück, ist ein "Ereignis, das die Welt verändert". Das klingt, als hätte Angela Merkel den 1. November 1955 im Sinn gehabt, als sie gegen alle Widerstände den Atomausstieg durchsetzte. Und in diesem Punkt hat sie Verfassungsrechtler an ihrer Seite. Hans-Jürgen Papier, ehemals Verfassungsgerichtspräsident und nun Staatsrechtsprofessor in München, sieht "nach Fukushima die Maßstäbe" verschoben. Und Papiers Hamburger Professorenkollege Hans-Joachim Koch, lange Zeit Vorsitzender des Sachverständigenrats für Umweltfragen, meint tatsächlich eine Veränderung in den Köpfen der Verantwortlichen, eine Art später Aufklärung, entdecken zu können: "Eine Reihe von Verantwortungsträgern," urteilt Koch, habe Fukushima "als Anschauungsmaterial gebraucht, weil ihr Vorstellungsvermögen nicht ausreichte" - das Vorstellungsvermögen für das, was passieren kann, wenn etwas passiert.

Für manche Juristen reicht es aber offenbar noch immer nicht. Weder Lissabon noch Fukushima hinterlassen Spuren in dem Gutachten der Atomkraftbetreiber, das wesentlich vom CDU-Politiker und Staatsrechtler Rupert Scholz verfasst worden ist. In wenigen Zeilen und ohne jede weitere Begründung wird die Zeitenwende weggewischt: Zwar könne der Bundestag bestimmen, dass es nach Fukushima ein öffentliches Interesse am Ausstieg gebe. Dieses sei aber nicht wichtig genug, die Anlagen einfach stillzulegen. Allenfalls eine volle Entschädigung könne diesen Mangel wiedergutmachen.

Welche Atomgefahren das Gemeinwohl ernsthaft berühren, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Schnellen Brüter von Kalkar 1978 festgelegt: Beachtlich seien nur solche Gefahren, so urteilten die Richter, deren Realisierung "am Maßstab praktischer Vernunft" zu erwarten seien. Dann ein folgenschwerer Satz: "Ungewissheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen." Dies war die Segnung der deutschen Atomwirtschaft durch das Recht: Von Verfassung wegen, so stand fürderhin fest, haben alle Bürger mit einem "Restrisiko" zu leben, das um des schönen Stroms willen einzugehen ist.