Ohne ihn wären wohl noch mehr beim Blutbad auf der norwegischen Insel Utoya gestorben: Der deutsche Camper Marcel Gleffe hat mit einem Boot fast 30 Jugendliche in Sicherheit gebracht. Ein traumatisches Erlebnis, auch für den Lebensretter.
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© dpaAm Sonntag wird auch die Heldentat des deutschen Campers Marcel Gleffe bekannt. Als die Schüsse auf Utoya fielen, rettete er mit seinem kleinen Angelboot fast 30 Jugendliche vor dem Tod.
Auch zwei Tage nach dem Massaker in Norwegen hat es Marcel Gleffe noch nicht ganz begriffen. Der 32-jährige Deutsche - etwa 1,75 Meter groß, kräftig, mit Vollbart - sitzt mit nachdenklicher Mine auf der Terrasse des Campingplatzes von Utvika. Er raucht eine Zigarette und erzählt von dem wohl wichtigsten, aber auch schlimmsten Tag seines Lebens. Dem Tag, an dem er zum Helden wurde.

Es ist der Tag, an dem der Norweger Anders Behring B. erst in Oslo eine Bombe zündete und anschließend auf der rund 30 Kilometer von Oslo entfernten Insel Utoya wahllos um sich schoss und mindestens 86 Jungen und Mädchen tötete.

Schüsse beim Kaffeetrinken

Marcel Gleffe mag sich wünschen, er hätte das Grauen dieses Freitagnachmittags nicht erleben müssen. Aber aus Sicht von fast 30 Jugendlichen, die auf Utoya eine schöne Woche im Ferienlager verbringen wollten, war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Den Campingplatz Utvika, auf dem Gleffe und seine Verwandten Urlaub machten, und die Insel trennen nur etwa 500 Meter Wasser.

Als die ersten Schüsse fielen, waren Marcel Gleffe und seine Cousins, Onkel und Tanten beim Kaffeetrinken. Ein Feuerwerk dachten sie zunächst. Doch Gleffe, durch eine Einsatzausbildung bei der Bundeswehr mit dem Klang von Waffen vertraut, war skeptisch.

Zu weit, zu kalt

Er rannte die wenigen Meter, die ihr Campingwagen von der Küste entfernt steht, blickte durch sein Fernglas zur Insel und sah Jungen und Mädchen, die hektisch ins Wasser sprangen. „Die sind von Klippen gesprungen und man sah, dass sich viele dabei verletzt haben“, so Gleffe. „Da wusste ich, dass sie auf der Flucht waren.“

Von der Insel bis zum rettenden Festland war es zu weit zum Schwimmen, das Wasser hatte 15 Grad. „Vielleicht auch weniger“ , vermutet Gleffe. „Sie hätten das alleine nicht überlebt.“ Er rannte zu dem roten, gemieteten Boot, mit dem er und seine Verwandten am Vortag noch Angeln waren, und raste, so schnell es der Zehn-PS-Motor zuließ, in Richtung Insel.

Gleffe fährt Tour um Tour

Nach und nach zog er die Jugendlichen aus dem Wasser. Für maximal fünf Leute war das Boot ausgelegt - Gleffe nahm pro Tour bis zu acht auf. „Einmal wollten sich fünf auf einer Seite aus dem Wasser am Bootsrand hochziehen. Ich musste das Gleichgewicht halten und aufpassen, dass das Boot nicht umfällt“, sagt er.

Der erste Junge, den er an Deck zog, habe seinen Kopf gepackt und ihn angeschrien: „Runter, runter, er schießt auf uns!“ Anders Behring B., den 32-jährigen Schützen, den die Polizei erst anderthalb Stunden später festnehmen sollte, sah Gleffe nur kurz auf einem Felsen der Insel sitzen. „Ich habe ihn nicht wirklich gesehen, sondern dachte nur: schnell weg.“

Nicht Nachdenken, sondern Handeln

Die Gesichter der Kinder, die Gleffe ihr Leben verdanken, wird der hartgesotten wirkende Mann dagegen wohl nie vergessen. „Sie waren völlig fertig, hatten Heulkrämpfe und kauerten sich im Boot aneinander.“ Er selbst sei ruhig geblieben. „Ich musste ja funktionieren. Auf dem Rückweg zum Ufer habe ich mit dem Fernglas schon nach den nächsten im Wasser Ausschau gehalten.“

Auch Marcel Gleffes Familie organisierte sich, als hätte sie eine Ausbildung als Notfallretter absolviert. Am Ufer warteten Gleffes Cousins auf die Kinder, die nur mit Unterwäsche bekleidet, völlig unterkühlt und nervlich wie körperlich am Ende waren. „Marcel fuhr dann sofort wieder raus. Wir Männer brachten die Kinder zum Wohnwagen und die Frauen haben sie mit Kleidung und warmen Decken versorgt“, berichtet Uwe Alber, der Cousin von Marcel Gleffe.

Keiner hilft außer Gleffe

Der auf dem Festland westlich der Insel Utoya gelegene Campingplatz war gut belegt, als die Tragödie begann. Die Schüsse waren weithin zu hören, die planlos im Wasser schwimmenden Kinder kaum zu übersehen. Viele der Camper haben Boote im Wasser, doch außer der Familie aus der Müritz in Mecklenburg-Vorpommern waren zunächst alle zu geschockt, um zu helfen. „Als ich von einer Tour wieder mit acht Kindern ans Ufer kam, habe ich die Leute angeschrien, damit sie endlich auch helfen“, sagt Gleffe.

Seit zwei Jahren lebt der gelernte Dachdecker in Norwegen. Mit seinen Verwandten wollte er sich einige schöne Tage machen. Nun kommt eine Psychologin auf ihn zu, reicht ihm einige Tabletten und sagt: „Sie sollten schlafen gehen.“ Er nickt und sagt noch: „Am Freitag habe ich völlig unter Strom gestanden und funktioniert. Samstag kam dann das Essen wieder hoch und jetzt bin ich einfach völlig durch den Wind.“ Es werde wohl noch lange dauern, vermutet er, bis er wirklich versteht, was an diesem 22. Juli 2011 eigentlich passiert ist - jenem Tag, der wohl für immer der furchtbarste, aber auch der wichtigste seines Lebens bleiben wird.

it/dapd