Viele Millionen Deutsche können sich trotz staatlicher Leistungen nicht die grundlegenden Ausgaben im täglichen Leben leisten. Die Zahlen des Bundesamts für Statistik offenbaren große Lücken im deutschen Sozialstaat.
Agentur für Arbeit, Jobcenter
© ReutersTrotz Gang zum Jobcenter können sich viele Menschen in Deutschland nicht die grundlegenden Güter des Alttags leisten.
„Deutschland geht es gut“ oder auch „so gut wie noch nie“, das betont Bundeskanzlerin Angela Merkel immer wieder gerne. Vom hohen Lebensstandard und dem Mangel „echter“ Probleme fabulieren auch immer wieder gerne politische Beobachter, wenn sie kopfschüttelnd fragen, wie es sein kann, dass sich immer mehr Menschen vom politischen Establishment abwenden und ihre Stimme lieber für eine Protestwahl einsetzen.

Ausreichend Nahrung, eine geheizte Wohnung, ein Telefon - das alles sollte in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein. Doch immer mehr Hartz IV-Empfänger können sich die grundlegenden Güter des Alltags nicht leisten, so eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes.

Ganze 30,1 Prozent der ALG II-Bezieher sind „von erheblicher materieller Entbehrung“ betroffen. Eine solche Entbehrung liegt vor, wenn für vier von mindestens neun Basisgütern das Geld nicht reicht. Das fristgerechte Begleichen der Mietzahlungen zählt ebenso dazu wie ein halbwegs gefüllter Kühlschrank. Auch die Ausgaben für Strom, Gas und Wasser werden bei der Erhebung berücksichtigt. Dazu gehört zur Teilhabe an der Gesellschaft auch der Besitz einer Waschmaschine, eines Fernsehgerätes und die Möglichkeit in Urlaub zu fahren. Besonders bedenklich: Im wirtschaftlich stärksten Land in Europa fallen weit mehr Menschen in diese Armutskategorie als im Rest Europas. Im EU-Schnitt liegt die Vergleichszahl bei 25,2 Prozent und damit 5 Prozent unter der Erhebung für Deutschland.

Als „nicht armutsfest“ kritisiert so auch die Partei Die Linke die derzeitigen Hartz IV-Regelungen und fordert eine Anhebung des Regelsatzes, der derzeit bei 404 Euro liegt, auf mindestens 560 Euro. Auch die kirchlichen Sozialverbände Caritas und die Diakonie kritisieren die aktuellen Hartz IV-Sätze scharf und bezeichnen diese als "willkürlich und unsachgemäß berechnet". Sicht auf wirkliche Besserung für die ALG II-Bezieher gibt es allerdings nicht. Zwar greift ab 1. Januar 2017 eine Erhöhung des Basissatzes, das Plus liegt allerdings nur bei monatlich fünf Euro. Wer sich jetzt schon verschulden muss, um sich eine neue Brille leisten zu können oder um Haushaltsgeräte reparieren zu lassen, sieht sich durch solch einen Betrag kaum entlastet.

Die Abhängigkeit vom Jobcenter ist alles andere als ein Randgruppenphänomen. Fast acht Millionen Deutsche - und damit rund 10 Prozent der Bevölkerung - sind ganz oder teilweise auf die staatliche Unterstützung angewiesen. Neben Arbeitslosen und prekär Beschäftigten im Niedriglohnsektor oder der Leiharbeit, sorgen auch die steigenden Ansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für einen merklichen Anstieg der Zahlen. Klar an der Spitze liegt dabei Berlin: In der Hauptstadt muss jeder fünfte Bürger regelmäßig beim Jobcenter vorstellig werden, um neue Anträge auszufüllen oder unangenehme Fragen zu beantworten.

Trotz der äußerst knappen Kalkulation der staatlichen Leistungen gab das Bundessozialministerium im August dieses Jahres bekannt, dass Hartz IV-Empfänger keinen Anspruch auf Mehrzahlungen haben, um einen eigenen privaten Notvorrat anzulegen. Zuvor hatte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ein neues Zivilschutzkonzept vorgestellt und darin geraten, dass ein Haushalt mit vier Personen Nahrungsmittel und Getränke im Wert von etwa 300 Euro vorrätig halten sollte. Angesichts der aktuellen Zahlen, die zeigen, dass mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland schon bei der Finanzierung der Alltagsanforderungen scheitern, offenbart sich hier jedoch ebenfalls eine beträchtliche Lücke.

Die aktuellen Hartz IV-Regelungen wurden seit Ende 2003 als Teil der sogenannten Agenda 2010 der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder eingeführt. Ebenso lange kritisieren Sozialverbände und die Partei Die Linke die Gesetzgebung als gezielten Abbau des deutschen Sozialstaates.