Kein Land in Europa ist prozentual so kinderarm wie Deutschland: Nur jeder sechste Einwohner ist unter 18 - Tendenz sinkend. Besonders im Osten kommen weniger Kinder zur Welt.

Auf die Frage, was er sich am meisten wünscht, weiß Max erst einmal keine Antwort. Der neunjährige Junge aus dem Berliner Stadtteil Hellersdorf schaut angestrengt auf den Boden und überlegt. Dann sagt er mit leiser Stimme: „Eine ganz normale Familie“. Normal? „So mit Mama und Papa zusammen und dass wir alle mal gemeinsam in den Urlaub fahren.“

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© DAPD/DAPDEntwicklung der Kinderzahl in Ost- und Westdeutschland von 2000 bis 2010

Das Kind, das bei seiner alleinerziehenden Mutter aufwächst, wünscht sich eine durchschnittliche Familie. Nur was überhaupt der Durchschnitt ist, das ist immer schwieriger zu bestimmen.

Die Chefstatistiker des Landes haben in diesem Jahr erstmals alle relevanten Zahlen und Daten zusammengetragen, die zeigen sollen, wie Umwelt und Alltag von Kindern heute aussehen. Die Studie „Wie leben Kinder in Deutschland?“, die das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Berlin präsentierte, geht unter anderem der Frage nach, wie sich die Zahl der Kinder verändert hat und in welcher familiären und wirtschaftlichen Situation diese leben. Die Ergebnisse der nüchternen Faktensammlung sind dramatisch.

Trotz steigender Betreuungsquote weniger Kinder

Vor allem zwischen Ost- und Westdeutschland ist ein wachsendes Gefälle zu beobachten. Während im Westen Deutschlands seit 2000 die Zahl der Kinder um 10 Prozent sank, fiel der Rückgang im Osten mit 29 Prozent deutlich gravierender aus. Dort lebten 2010 nur noch rund 2,1 Millionen Minderjährige - 837.000 weniger als noch vor zehn Jahren. An einem Mangel an Betreuungsangeboten kann der Geburtenrückgang im Osten nicht liegen. Denn gerade dort sind die Betreuungsangebote für Kinder weitaus größer als im Westen.

Besonders für die unter Dreijährigen hat der Ausbau der Plätze in Kindertageseinrichtungen und bei Tagesmüttern zugenommen. Deutschlandweit liegt die Betreuungsquote bei 23,1 Prozent. Spitzenreiter im bundesweiten Vergleich ist Sachsen-Anhalt mit einer Betreuungsquote von 56 Prozent - dort befindet sich jedes zweite Kind unter drei Jahren in Betreuung. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern folgen mit jeweils 51 Prozent.

Auch insgesamt kommt Deutschland der Nachwuchs abhanden. Nur noch 16,5 Prozent der über 81 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind jünger als 18 Jahre. Allein in den vergangenen zehn Jahren sank die Zahl der Minderjährigen um 2,1 Millionen auf 13,1 Millionen. „Deutschland ist das kinderärmste Land in Europa“, sagt Roderich Egeler, Präsident des Statistischen Bundesamts.

Europaweit gibt es in der Türkei die meisten Kinder

Zum Vergleich: Im Nachbarland Frankreich liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung bei mehr als 22 Prozent. Großbritannien, die Niederlande sowie die skandinavischen Länder kommen auf einen Anteil von über 20 Prozent.

Die meisten Kinder und Jugendlichen im europäischen Raum leben in der Türkei. Fast jeder dritte (31,2 Prozent) der über 72 Millionen Türken ist jünger als 18 Jahre. Nach Ansicht von Familien-Staatssekretär Josef Hecken zeigt der Rückgang der Kinderzahl in Deutschland, „wie wichtig eine nachhaltige Familienpolitik ist“. Die Bundesregierung sei mit ihren familienpolitischen Maßnahmen auf einem guten Weg.

Doch auch bei der familiären Konstellation, in der ein Kind aufwächst, herrscht ein großer Unterschied zwischen Ost und West. Während ein Kind im Westen in 79 Prozent der Fälle bei verheirateten Eltern groß wird, leben Kinder in Ostdeutschland häufiger bei ihren unverheirateten Eltern oder nur bei einem Elternteil.

In Ostdeutschland gibt es mehr Alleinerziehende

Dort beträgt der Anteil der Kinder, die von verheirateten Eltern großgezogen werden, bei nur 58 Prozent. „Die alleinerziehende Lebensform ist diejenige, die im Osten am stärksten wächst“, sagte Julia Weinmann, Referentin des Statistischen Bundesamts.

Gleichzeitig seien die Kinder in den neuen Bundesländern oft stärker armutsgefährdet als im Westen. Zwar sind Kinder in Deutschland laut aktuellem Bericht des Statistischen Bundesamtes nicht stärker armutsgefährdet als der Durchschnitt der Bevölkerung. Demnach waren in Deutschland 15,5 Prozent der Bevölkerung vom Armutsrisiko betroffen. Für Kinder liegt diese Quote bei exakt 15 Prozent.

Zahlen und Fakten zu Kindern in Deutschland

Das Statistische Bundesamt hat Daten und Fakten zur Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland vorgestellt.

Doch der Unterschied in den verschiedenen Familienstrukturen ist hier gravierend: Kinder, die in Haushalten von Alleinerziehenden leben, haben das größte Risiko, Armut zu erleben - bei diesen Haushalten lag der Anteil der armutsgefährdeten Personen im Jahr 2008 bei 37,5 Prozent - fast drei Mal so hoch wie bei Personen in Haushalten mit Kindern insgesamt. Da im Osten der Republik deutlich mehr Kinder bei alleinerziehenden Eltern aufwachsen, spielen somit auch die materiellen Unterschiede zwischen West und Ost eine große Rolle.

Fast zwei Millionen Kinder auf Hartz IV angewiesen

Insgesamt lebten Ende 2010 nach den Angaben der Statistiker 1,96 Millionen Kinder unter 18 Jahren in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften. Besonders häufig waren auch hier die Kinder von Alleinerziehenden betroffen. Bei jedem dritten Kind in dieser Gruppe sind staatliche Hilfen die Haupteinkommensquelle der Familie. Leben Kinder in Paarfamilien, sind Transferzahlungen deutlich seltener die Quelle des Lebensunterhalts.

Bundesweit gaben sieben Prozent der Familien mit Kindern unter 16 Jahren an, ihrem Nachwuchs aus finanziellen Gründen keine regelmäßige Freizeitbeschäftigung wie Sport oder Musizieren ermöglichen zu können. 22 Prozent klagten darüber, wegen Geldmangels auf eine jährliche Urlaubsreise verzichten zu müssen.

Max aus Berlin war noch nie mit seiner Mutter im Urlaub. Dafür hat die Hartz-IV-Empfängerin kein Geld. Was er sich als normale Familie vorstellt, mit Papa und Mama gemeinsam weg zu fahren, wird für ihn vorerst ein unerfüllter Wunsch bleiben.

Dafür hat Max schon eine sehr genaue Vorstellung von seiner Zukunft. „Ich bin verliebt und werde bald heiraten“, erzählt der Neunjährige. Deshalb möchte er auch möglichst bald in eine eigene Wohnung ziehen. Denn Max hat einen großen Plan gefasst: „Ich will selbst Kinder bekommen. Am besten zwei.“ Mit ihnen, erzählt er, wird er dann auch in den Urlaub fahren. „So oft wie ich kann.“