Die Zeugen Jehovas organisieren ihr Leben nach strengen Richtlinien - viele davon wirken auf Nichtgläubige befremdlich, doch sind sie auch gefährlich?
utsch
© unbekanntMichael Utsch, Referent der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.

Michael Utsch ist Referent der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin und beschäftigt sich mit der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Ulrike Nimz sprach mit ihm über den Begriff "Sekte", Toleranz und Lippenbekenntnisse.

Freie Presse: Herr Utsch, wann genau kann eine Glaubensgemeinschaft als "Sekte" bezeichnet werden?

Michael Utsch: Der Begriff ist sowohl religionswissenschaftlich als auch im staatsrechtlichen Sinne nicht eindeutig definiert. Es gibt jedoch eine Reihe von Kriterien, die ausschlaggebend sind: Ein Punkt ist der Exklusivitätsanspruch einer Religionsgemeinschaft, wenn nur die eigenen Anhänger auf das Paradies und Erlösung hoffen dürfen, alle anderen Menschen hingegen nicht. Auch wenn psychische oder physische Sanktionen drohen für den Fall, das ein Mitglied sich abwendet, ist das sicher kritisch zu bewerten. Daneben muss beobachtet werden, ob Manipulationstechniken zum Einsatz kommen - Mitglieder gedrängt werden, herkömmliche Medien zu meiden und sich ausschließlich mit den Publikationen der Gemeinschaft zu beschäftigen.

Freie Presse: Dann sind die Zeugen Jehovas in Ihren Augen eine Sekte?

Michael Utsch: Der Begriff "Sekte" ist immer nur eine Außenbeschreibung und in unserem Sprachgebrauch negativ konnotiert. Deshalb sind wir zurückhaltend mit der Verwendung. Auffällig sind die Zeugen Jehovas jedoch wegen ihres Schwarz-Weiß-Denkens. Die Zeugen verstehen sich als Auserwählte, als jene, die das kommende Weltgericht überleben werden. Und wenn Sie sich mit ihren Texten beschäftigen, werden Sie feststellen, dass die Welt, in der Sie und ich leben, als sündig und verdorben dargestellt wird. Das wiederum hat eine gewisse Isolation zur Folge, die später für potenzielle Aussteiger zum Problem werden kann.

Freie Presse: In Sachsen sind die Zeugen Jehovas eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, genießen die gleiche Stellung wie beispielsweise die evangelische Kirche.

Michael Utsch: Das stimmt. Aber die Möglichkeiten, die sie dadurch hätten - Religionsunterricht zu erteilen oder Steuern einzuziehen - nutzen sie nicht. Es wäre auch paradox: Eine Gemeinschaft, die darum bemüht ist, so wenig Berührungspunkte wie möglich mit dem Staat zu haben, bringt sich nicht auf einmal ein. Man erhofft sich durch die staatliche Anerkennung vielmehr einen Imagegewinn.

Freie Presse: Die Kongresse der Zeugen Jehovas sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Der Austausch mit Nichtgläubigen ist nach eigener Aussage gewünscht. Es gebe sogar glückliche Ehen, in denen nur einer der Partner Zeuge Jehovas ist. Alles Lippenbekenntnisse?

Michael Utsch: Das klingt schön und gut, so harmonisch wird es in der Wirklichkeit jedoch nicht ablaufen. Die Unterscheidung in Zeuge und Nicht-Zeuge wird kategorisch vorgenommen - und das führt unweigerlich zu Konflikten. Für Kinder gibt es schon Probleme, wenn sie mal auf einen Kindergeburtstag eingeladen werden. Ich bestreite ja gar nicht, dass dieses strikte System für manche Menschen stabilisierend sein kann. Sie empfinden die enge Gemeinschaft auch nicht als Gefängnis. Trotzdem funktioniert das nur, so lange man mitspielt. Wer Kritik äußert, wird Probleme bekommen. Das beobachten wir oft so bei derlei Abspaltungen vom christlichen Glauben.

Freie Presse: Streng genommen hat sich die evangelische Kirche auch von der katholischen abgespaltet.

Michael Utsch: Richtig. Einen entscheidenden Unterschied sehe ich jedoch in punkto Toleranz. Ich lasse andere Menschen ihren Glauben leben. Ich glaube nicht, dass auf die Zeugen Jehovas die Verdammnis wartet. Nur dass es umgekehrt genauso ist, bezweifle ich.