Ein Wahlprogramm ohne entscheidende Punkte, der Kanzlerkandidat weiter abgetaucht, Journalisten erst aus- und dann wieder eingeladen: So kann man keine Wahl gewinnen.
Martin Schulz
© AP Photo/ Matthias Schrader
In der SPD herrschte an diesem Montag wieder einmal Alarmstimmung, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: In der Poststelle der Parteizentrale wurde am Morgen eine verdächtige hölzerne Box entdeckt. Wegen Bombenvermutung räumte die Polizei daraufhin das Willy-Brandt-Haus, wo gerade der Vorstand über dem Wahlprogramm brütete. Eineinhalb Stunden mussten führende Genossen auf dem Bürgersteig ausharren, bis sie wieder ins Gebäude durften. Dort diskutierten sie dann unter Hochdruck über Hunderte Änderungsanträge zum Programmentwurf der Parteispitze, der am Nachmittag präsentiert werden sollte.

Die Holzbox entpuppte sich als eine Art harmloser Spendenkiste. Vielleicht hatte ja ein besorgter SPD-Anhänger das Kästlein geschickt, um Ideen zu sammeln, wie die Sozialdemokraten und ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz die Bundestagswahl womöglich doch noch gewinnen können. Die SPD hätte sie dringend nötig.

Denn spätestens seit der verlorenen Landtagswahl im Stammland Nordrhein-Westfalen, der dritten in Folge, ist die Partei im Alarmzustand. Die Euphorie, die die SPD nach der Nominierung von Schulz erfasst hatte und der Aufschwung in den Umfragen, der sie zeitweise auf Augenhöhe mit der Union gebracht hatte, sind verflogen. Niemand, auch nicht der Parteivorsitzende und Kanzlerkandidat, scheint eine Idee zu haben, wie sie aus diesem neuerlichen Tief wieder herausfinden wollen.

Keine Ideen oder keine guten Berater?

Stattdessen herrschen in der Partei Chaos, Streit und die altbekannte lähmende Verzweiflung, dass es mit dem erhofften Einzug von Schulz ins Kanzleramt wieder nichts wird. Alles auf Anfang. Oder noch schlimmer. Denn zu den zahlreichen taktischen und strategischen Fehlern seit Beginn des Schulz-Hypes kommen jetzt noch eklatante Fälle von Missmanagement hinzu: An diesem Montag wollte die Parteiführung der Öffentlichkeit eigentlich endlich den Entwurf ihres Wahlprogramms vorstellen, um nach den drei schmerzhaften Wahlniederlagen in den Ländern den Blick wieder nach vorne zu richten und das Gerechtigkeitsversprechen von Schulz mit Inhalt zu füllen.

Doch erst verstolperte sie den Termin, sagte die für Montagnachmittag angekündigte Pressekonferenz am späten Sonntagnachmittag überraschend ab, um sie dann doch abzuhalten. Und dann wurde der Vorstand nicht fertig. Weil so viele Themen im Wahlprogramm noch umstritten sind, legte er nur ein weiteres Rumpfpapier vor. Entscheidende Punkte wie das Renten- und Steuerkonzept fehlen noch immer. Der Streit darum soll jetzt möglicherweise erst auf dem Parteitag am 25. Juni ausgetragen werden - ziemlich genau drei Monate vor der Bundestagswahl. Wenig Zeit, um die Botschaft dann noch unters Wahlvolk zu tragen.

Dabei kamen ja weder der Termin der Bundestagswahl noch der Wahl in NRW für die SPD-Führung überraschend, genauso wenig wie die Diskussionsfreudigkeit der in Programme verliebten Mitglieder und Funktionäre. Seit seiner Nominierung und seiner triumphalen Kür zum Parteivorsitzenden hat Schulz, wie die Partei immer wieder betonte, "mit Hochdruck" an dem Wahlprogramm gearbeitet, das auf ihn zugeschnitten sein soll. Mit wem eigentlich hat er das getan, wenn jetzt noch immer so viel ungeklärt ist? Und weshalb vermag er es nicht, sich mit seiner Autorität als Parteichef und dem Anfangsrausch um seine Person mit seinen Vorstellungen inhaltlich durchzusetzen?

Oder hat er selbst gar keine genauen Ideen, weil er als langjähriger Europapolitiker in der Innenpolitik doch ziemlich unerfahren ist?

Lauter Leerstellen

So geriet selbst die verspätete Programmpräsentation nach den verlorenen Landtagswahlen zum erneuten Debakel: Während die Union auf ihrer Klausur in München ihre wiedergewonnene Harmonie zelebrierte, zementiert die SPD ihren Ruf als zerstrittener, unfähiger Haufen.

Wie anders hätten andere ihren angekündigten großen inhaltlichen Aufschlag inszeniert: als zweiten, wohlgeplanten wichtigen Schritt Richtung Kanzleramt, als Signal der Eintracht und der Entschlossenheit, vor allem: als One-Man-Show, bei der der künftige Kanzler, der er ja werden will, den Wählern verkündet, was er alles konkret anders machen wird, wenn sie ihn wählen.

Stattdessen blieb Schulz wie schon in den Landtagswahlkämpfen auf Tauchstation. Die Präsentation des Rumpfentwurfs überließ er - gemäß der Parteigeschäftsordnung - den drei Programmverantwortlichen: Generalsekretärin Katharina Barley, Fraktionschef Thomas Oppermann und Familienministerin Manuela Schwesig, nachdem ein erstes Papier in der vergangenen Woche, zwei Tage nach dem NRW-Desaster, lediglich en passant online gestellt worden war.

Schlechtes Timing, verheerende Öffentlichkeitsarbeit

Dabei hat Schulz ja inzwischen eingestanden, dass es ein schwerer Fehler war, während der Landtagswahlkämpfe still zu halten und das Feld den jeweiligen Landespolitikern zu überlassen, statt selbst Stück für Stück zündende Ideen und Programmpunkte unter die Wähler zu streuen. Das Ergebnis ist bekannt. Nun aber warten die Bürger wohl noch mindestens einen weiteren Monat darauf, um zu erfahren, wie er seine Versprechen konkret umsetzen will. Verlorene Zeit für die SPD, die in den Umfragen weiter in Richtung der traurigen Werte zurücksinkt, die sie vor Schulz hatte.

Die Schulz-SPD hat aber offenkundig nicht nur ein erhebliches Problem mit dem Timing und einer professionellen Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Auch das, was bisher über ihre Pläne bekannt wurde, ist teils widersprüchlich, teils noch sehr unkonkret. Viel mehr als Überschriften sind es kaum:
  • So will die SPD mehr soziale Gerechtigkeit schaffen - das zentrale Ziel von Schulz - , die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern und die Sozialabgaben senken. Aber was heißt das im Detail?
  • Sie will auch das Steuersystem "gerechter" gestalten, den Spitzensteuersatz erhöhen, untere und mittlere Einkommen entlasten und die Erbschaftsteuer reformieren. Aber sie macht bisher keine Angaben zu Steuersätzen und dem Umfang einer möglichen Steuersenkung. Das Konzept dazu steht noch aus.
  • Auch das Rentenkonzept fehlt noch. Wie soll die versprochene "Generationengerechtigkeit" aussehen? Mit weiteren Geschenken an Ältere und Rentner wie mit der "Rente mit 63" zu Beginn der jetzigen großen Koalition? Oder auch mit Entlastungen zugunsten Jüngerer, der künftigen Rentenbezieher und jetzigen Beitragszahler?
  • Bei der Inneren Sicherheit will die SPD die Union kontern, die damit bei den Landtagswahlen punktete und der die Wähler auf diesem Feld traditionell die größere Kompetenz zubilligen. Sie verspricht 15.000 zusätzliche Polizisten, mehr Videoüberwachung und schnellere Abschiebungen. Eine harte Linie also. Aber weshalb hat sie sich dann in der großen Koalition dagegen gesträubt? Und wie will sie mehr Videokameras installieren, wenn sie das selbst in Berlin an zentralen Stellen wie dem Alexanderplatz in der dortigen rot-rot-grünen Koalition nicht durchbekommt?
  • In der Bildungspolitik verspricht die SPD einen Abbau der Gebühren von der Kita bis zur Uni und mehr Investitionen in die Infrastruktur - auch das sind zentrale Themen in den Landtagswahlkämpfen. Aber wie will sie das finanzieren? Auch hier lauter Leerstellen.
Schulz hat noch eine Menge Arbeit vor sich. Die Zeit läuft ihm davon. Die große Frage ist, ob er die Fehler, die er und seine Partei schon gemacht haben, bis zum 24. September überhaupt wettmachen kann. Aber wenigstens anfangen sollte er damit.