Willkommen auf dem Planeten der Menschen. Sie sind nicht nur egoistische, gierige Wesen, auch wenn es meistens so aussieht. Verhaltensforscher Frans de Waal sagt: Die Spezies hat eine Veranlagung zur Empathie.
de Waal
© Michael HauriPrimatenforscher Frans de Waal: "Ich betrachte Menschen als Tiere."

Der Verhaltensforscher Frans de Waal sieht viele Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier und verlangt ein Umdenken über die menschliche Natur.

Herr de Waal, was gab es zum Frühstück bei Ihnen? Ein schönes deutsches Wurstbrötchen?

Morgens mag ich lieber Käse.

Essen Sie überhaupt Fleisch?

Durchaus.

Keine Skrupel? Wo Sie sich gegen scharfe Trennlinien zwischen Mensch und Tier aussprechen?

Ich finde, die Agrarindustrie sollte Tiere anders behandeln.

Man hat lange geglaubt, Tiere hätten kein Empfinden. Was weiß man heute?

Neurowissenschaftler, die im menschlichen Gehirn auf Regionen gestoßen sind, die für bestimmte Gefühle zuständig sind, haben im Gehirn von Tieren dieselben Regionen und Zuständigkeiten entdeckt. Und wenn Angst bei der Ratte die Amygdala aktiviert und beim Menschen auch, muss es sich um dasselbe Gefühl handeln.

Tierbesitzer behaupten also zu Recht, ihre Katze reagiere beleidigt und ihr Hund denke nach?

Das geht zu weit. Wenn jemand behauptet, sein Hund fühle sich schuldig, würde ich entgegnen, der Hund erwarte eine Bestrafung, was eine einfachere Erklärung desselben Verhaltens ist. Man muss aufpassen, auf welcher Ebene man sich bewegt. Entscheidend ist, wie nah ein Tier mit dem Menschen verwandt ist. Menschen zum Beispiel küssen und umarmen sich nach einem Kampf. Schimpansen küssen und umarmen sich nach einem Kampf ebenfalls. Wenn wir dieses Verhalten bei Menschen Versöhnung nennen, sollten wir das bei Schimpansen auch, solange es keine Anzeichen gibt, dass es sich um etwas anderes handelt.

Darf man Erkenntnisse aus der Tierforschung wirklich auf den Menschen übertragen?

Ich betrachte Menschen als Tiere. Sie mögen komplizierte Tiere sein, aber bei Veranlagungen, die wir mit vielen anderen Tieren teilen - Wettbewerbsstreben, Dominanz, Empathie, Altruismus, Territorialität -, ist schwer vorstellbar, dass sie nichts mit unserer Evolution zu tun haben sollen.

Was unterscheidet Mensch und Tier?

Das menschliche Gehirn ist im Prinzip nichts Besonderes, es ist nur dreimal so groß wie das des Schimpansen. Deshalb kann es von allem mehr. Unterschiede sind Sprachfähigkeit und Abstraktionsvermögen.

Warum plädieren Sie für eine Generalüberholung unserer Annahmen über die menschliche Natur?

Politikwissenschaft, Ökonomie und Anthropologie gehen gern von der Annahme aus, der Mensch sei des Menschen Wolf. Wir seien garstige Tiere. . .

Und bräuchten Religion, Vernunft und Verträge, um uns zu zähmen.

Der amerikanische Konservativismus ist ebenfalls überzeugt: Das Leben ist ein Kampf, und wir müssen die Prämissen der Natur auf die Gesellschaft übertragen - das Prinzip der Konkurrenz. Das ist aber eine sehr einseitige Auslegung von Darwin. Wenn man den Menschen verstehen will, muss man das ganze Bild betrachten. Das schließt Solidarität, Empathie und Kooperation mit ein. Und ich glaube, dass es sich dabei um sehr alte Veranlagungen handelt, die schon bei Hunden, Delphinen und vielen anderen Tieren zu finden sind.

Hat uns die Finanzkrise nicht vor Augen geführt, dass wir die rücksichtslosesten Egoisten überhaupt sind?

Einerseits stimmt das. Andererseits haben wir auch angefangen nachzudenken. Wir haben kapiert, dass an der Wall Street die Gier regiert. Aber unser Vertrauen in unregulierte Märkte ist massiv gesunken. Dafür gibt es mehr Debatten und Bücher über Solidarität und Empathie. Die Haltung ändert sich.


Kommentar: Jedoch ist das Wissen über Psychopathie und ihre Wirkung vielen unbekannt, um unmögliches und korruptes Verhalten erklären zu können. Wobei der Psychopath eigentlich als nicht menschlich bezeichnet werden kann, da ihm das Wichtigste fehlt: Empathie.


Was ist stärker? Unser Egoismus oder unsere soziale Ader?

Schwer zu sagen. Wir sind alle Egoisten. Aber wir sind abhängig von anderen Menschen. Aus diesem Grund leben Menschen in Gesellschaften und Affen in Gruppen: Alleine würden wir nicht überleben. Bei männlichen Affen, die ihre Horde in der Pubertät verlassen, steigt die Sterblichkeit, bis sie sich wieder einer anderen Gruppe anschließen. Die schlimmste Strafe, die Menschen verhängen, ist Einzelhaft. Wir waren nie autonome Individuen, wie Rousseau sich das vorstellte. Wir stammen von Affen ab, die in Gruppen zusammengelebt haben, und wir sind selbst sehr soziale Tiere.

Welche Funktion hat Empathie?

Empathie hat sich in kleinen Gemeinschaften zwischen Verwandten und Freunden entwickelt. In diesem Zusammenhang nützte sie sowohl einem selbst als auch den anderen. Wenn ich gemeinsam auf die Jagd gehe, ist es in meinem Interesse, dass auch die anderen gesund, kräftig und bei guter Verfassung sind. Aber heutzutage leben wir in riesigen Gesellschaften und verhalten uns empathisch gegenüber Menschen, die wir nie gesehen haben. Altruistisches Verhalten muss nicht mit Vorteilen für einen selbst verbunden sein.

Denken Sie auch an Ihre Affen, wenn Sie die Anteilnahme beispielsweise mit den Opfern der Naturkatastrophe in Japan sehen?

Wenn Sie mir auf einen Zettel schreiben würden, "da war ein Erdbeben in Japan und viele Menschen sind gestorben", würde mich das kaum berühren. Wenn Sie mir aber Videoaufnahmen von Menschen zeigen, die alles verloren haben, erwacht in mir das Gefühl, dass etwas wirklich Schlimmes passiert ist. Unsere Gefühle sind leichter zu aktivieren, wenn wir den Gesichtsausdruck von Menschen sehen und ihre Stimme hören. Menschliche Empathie ist noch immer stark abhängig von körperlichen Signalen.

Wie funktioniert Empathie?

Empathie hat verschiedene Stufen. Wenn wir eine Maus empathisch nennen . . .

Wie bitte? Mitfühlende Mäuse?

Studien haben gezeigt, dass eine Maus, die sieht, wie eine andere Schmerzen erleidet, selbst empfindlicher auf Schmerzen reagiert. Aber eine Maus mag sich zwar von der Angst oder vom Stress anderer Mäuse anstecken lassen, zu mehr ist sie nicht in der Lage. Das ist die unterste Stufe der Empathie, die alle Säugetiere beherrschen. Menschen können das von Geburt an, Neugeborene beginnen zu weinen, wenn sie andere Babys weinen hören. Auf der zweiten Stufe werden Sie von den Emotionen des anderen nicht nur berührt, Sie versuchen, sie zu verstehen. Sie versetzen sich in die Situation des anderen hinein. Die höchste Stufe bleibt dem Menschen vorbehalten: Sie lesen einen Roman und können sich - ganz ohne Anschauung - die Situation der Hauptfigur genau vorstellen.

Stimmt es, dass Elstern sich in andere hineinversetzen können?

Die Elster ist der einzige Vogel bisher, der den berühmten Spiegeltest besteht.

Das müssen Sie erklären.

Den Spiegel- oder Rougetest bestehen Kinder im Alter von etwa zwei Jahren. Wenn das Kind im Spiegel einen Farbfleck auf seiner Stirn entdeckt, fängt es an, sich zu befühlen. Es verbindet das Spiegelbild mit sich selbst. Im selben Alter benutzen Kinder plötzlich ihren Namen und fangen an, sich um andere zu sorgen. Die Theorie besagt, dass die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis nötig ist, um komplexe Formen von Empathie zu entwickeln: die Perspektivenübernahme. Evolutionsgeschichtlich gibt es nur ganz wenige Tiere, die dazu fähig sind, Elefanten, Delphine, Menschenaffen.

Haben Sie ein Beispiel?

Vor einiger Zeit ist in unserem Forschungsgehege in Atlanta ein alter Affe gestorben. Er keuchte und schwitzte, und eine alte Schimpansenfrau, die mit ihm befreundet war, schleppte einen Berg Holzwolle an und stopfte sie hinter seinen Rücken. So wie Besucher im Krankenhaus einen Patienten auf Kissen betten. Das ist Perspektivenübernahme: Die Affenfrau wusste, dem anderen geht es schlecht, und wollte es ihm bequemer machen.

Warum sagen Sie, Männer seien weniger empathisch als Frauen?

Die Wiege der Empathie ist vermutlich die mütterliche Fürsorge, die alle Säugetiere praktizieren. Das setzt voraus, dass das Weibchen sensibel auf seinen Nachwuchs reagiert, um zu wissen, ob das Baby friert, Hunger hat oder in Gefahr ist. Frauen brauchen also ein Gespür für ihren Nachwuchs. Das bedeutet einen hohen Überlebensvorteil. Dieses Muster mütterlicher Fürsorge ist dann auf andere Beziehungen wie Freundschaften übertragen worden. Aber Frauen haben immer noch mehr davon, wie man bei Menschen, Schimpansen und anderen Säugetieren nachgewiesen hat.

Ist das nicht eine perfekte Entschuldigung für männliche Kälte nach dem Motto: "Ich kann nicht anders, ich bin so"?

Ich finde nicht. Ich bin sehr dafür, dass Männer Empathie zeigen. Deshalb fasziniert mich die Tatsache, dass Männer sie unter bestimmten Umständen gerade nicht komplett abschalten können. Im Krieg zum Beispiel: Die wenigsten Soldaten töten. Und die anderen kommen oft mit posttraumatischen Belastungsstörungen zurück. Warum? Warum entsteht ein Trauma, wenn jemand tötet, obwohl er einen Befehl, eine Rechtfertigung hat? Ich glaube, Männer sind gar nicht so gut im Töten. Sie können ihre Empathie herunterfahren, aber nicht vollständig abschalten.


Kommentar: Der Psychopath ist derjenige der andere ohne Probleme töten kann, da er kein Schuldbewusstsein besitzt.



Aber gerade der Mensch kann seine Natur doch mit Hilfe von Kultur, Verstand, Moral und Willen beeinflussen. Wir könnten die Männer oder die Menschheit generell in die Pflicht nehmen und mehr Empathie fordern.

Das funktioniert alles nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wir können uns nicht komplett verändern.

Warum halten Sie die Biologie dennoch für unsere größte Hoffnung?

Wenn Empathie kein biologisches Merkmal unserer Spezies wäre, könnte sie schon morgen verschwinden: Irgendeine Religion oder kulturelle Gruppe könnte kommen und anfangen, uns umzuerziehen. Wie bei Orwell. Aber Empathie bleibt. Eine biologische Eigenschaft können Sie ausbauen oder schwächen. Aber Sie werden sie nicht los.

Aber es ist doch biologistisch, uns qua Natur auf das Gute im Menschen zu verpflichten.

So habe ich das nicht gemeint. Ich sage nicht: Wir sollten die Prinzipien der Natur auf die Gesellschaft übertragen. Es ist wie beim Bau eines neuen Zoogeheges. Da will man doch auch vorher wissen, ob ein Tag- oder Nachttier einzieht, ob es gerne klettert oder lieber schwimmt. Mit Gesellschaftsentwürfen ist es dasselbe: Man sollte wissen, mit was für einem Wesen man es zu tun hat.

Text: F.A.S.