Wahlprognosen sind nicht nur oft falsch, sie entpolitisieren die Gesellschaft und manipulieren die Wähler. So hart es klingt: Man sollte besser auf sie verzichten.
© Michael Kappeler/dpa
Dies ist ein Text unserer neuen Serie Fünf und der Fisch
. Bis zur Bundestagswahl schreiben fünf Experten über Prognosen, Versprechen und Kampagnen. Und ein Fisch prognostiziert den nächsten Kanzler. Alle Informationen über die Serie finden Sie hier.Zugegeben, auch ich beobachte gespannt die Wahlumfragen. Wie viele andere auch interessiert es mich brennend,
ob die Union ihren Vorsprung hält und welche Koalitionen sich abzeichnen. So ein Rennen ist ja auch ein nettes Plauderthema. Hätten wir keine Umfragen, sähen wir nichts von dem Rennen, sondern bekämen nur das Ergebnis mitgeteilt.
Und natürlich ist es verführerisch, Wissenschaftlern zu trauen, Statistik an die Stelle von politischen Mutmaßungen zu setzen.
Aber ist es auch gut für die Demokratie? Ich bezweifle das. Umfragen können irreführend und sogar verfälschend wirken.
Meinungsforscher haben in der letzten Zeit schon mehrfach versagt und es gibt wenige Gründe anzunehmen, dass solche Irrtümer nicht auch in Deutschland passieren können. Tatsächlich gab es sogar schon extremere Fälle, etwa als die FDP zur Landtagswahl im Saarland 1985 auf weniger als zwei Prozent geschätzt wurde, am Ende aber um die zehn Prozent erhielt.
Als Forscher habe ich mich lange mit der Aussagekraft von Umfragen beschäftigt. Schließlich habe ich selbst versucht, bessere Prognosen zu erstellen. Ich errechnete Mittelwerte aus den Ergebnissen der Forschungsinstitute, ich gewichtete die Institutsergebnisse mithilfe der Genauigkeit früherer Vorhersagen. Doch je länger ich an der perfekten Umfrage feilte, desto mehr drängte sich mir die Frage nach dem Wozu auf.
Meinungsforschung macht auch selbst Meinung. Sie kann, ob gewollt oder nicht, Wahlen beeinflussen. Dafür gibt es jede Menge Beispiele. Wird eine Partei dauerhaft auf unter drei Prozent geschätzt,
liegt es für den taktisch denkenden Wähler nahe, die Stimme einer größeren Partei zu geben, um sie nicht zu verschenken.
Prognosen dagegen, die eine Partei in unmittelbarer Nähe der Fünfprozenthürde einordnen, werden nicht nur die eigenen Anhänger motivieren, sondern auch Wähler anderer Parteien zu Leihstimmen verführen. Falls Sie jetzt an die FDP denken: Ja, bei den Liberalen konnten wir das immer wieder gut beobachten.
Nun kann man sagen, dass gegen taktisches Wählen wenig einzuwenden ist - abgesehen davon, dass die Wahl einer Partei, die man eigentlich nicht bevorzugt, kein Ruhmesblatt für die Demokratie ist. Doch die Orientierung des Wählers an Umfragen hat auch schon schwerwiegendere Folgen gehabt. Etwa beim
Brexit. Viele Wähler dürften angesichts der scheinbar klaren Prognosen auf das Wählen verzichtet haben oder sogar gegen ihre Überzeugung für den Brexit gestimmt haben, um der Regierung einen Denkzettel für Versagen auf anderen Feldern verpassen zu wollen.
Es verzerrt Wahlergebnisse, wenn viele Menschen zu wissen glauben, wie die Wahl ausgehen wird.
Am augenscheinlichsten wurde mir die politische Kraft von Umfragen in einem Gespräch mit jungen Leuten kurz vor der Bundestagswahl 2013. In der Runde outete sich ein junger Student als SPD-Mitglied. Prompt kamen abschätzige Reaktionen. Ich fragte nach den Gründen, aber trotz mehrfachen Bohrens kamen keine inhaltlichen Argumente. Selbst das Ansehen der damaligen Kandidaten der beiden großen Parteien - Merkel und Steinbrück - war bei allen in der Runde auf ähnlichem Niveau. Steinbrück wurde nicht abgelehnt. Ihm wurde nur vorgeworfen, sich für eine Partei zu engagieren, die doch ohnehin verlieren werde. Meinungsumfragen waren der Grund für die starke Anti-SPD-Stimmung. Die Kritiker des jungen SPDlers wollten lieber zu den Siegern gehören.
Es gibt nur wenige präzise Erhebungen darüber, wie stark veröffentlichte Beliebtheitswerte Wahlentscheidungen beeinflussen. Wir wissen nicht, für wie viele Wähler sich das Bild von Martin Schulz verschlechtert hat, weil seine Partei in den Umfragen abstürzte. Doch es ist alles andere als abwegig anzunehmen, dass manch ein Wähler gern aufseiten der Sieger steht.
In einer Umfrage des Instituts für Grundlagenforschung aus Salzburg gaben 25 Prozent aller Befragten in Österreich an, ihre Wahlentscheidung mindestens einmal nach Umfrageergebnissen ausgerichtet zu haben. Und da ein solches Verhalten eher zögerlich zugegeben wird, ist die folgende Zahl vielleicht noch aussagekräftiger: 68 Prozent unterstellten anderen Wählern, sich nach Umfrageergebnissen zu richten.
Umfragen sind ungenau, Umfragen verzerren Wählerentscheidungen. Und: Umfragen entpolitisieren. Wenn im Zentrum der Aufmerksamkeit der Spielstand zwischen den Spitzenkandidaten steht, dann werden tiefe inhaltliche Debatten schnell als nervtötend und anstrengend empfunden. Wenn ihnen nicht schon vorher die Relevanz verloren geht, weil das Ergebnis ohnehin schon feststeht - laut Umfragen.
Schauen wir nur auf die mit unfassbarem Ernst vorgetragenen persönlichen Beliebtheitswerte. Ist es wirklich wichtig, wer in der Rangfolge von Platz 7 auf Platz 10 gerutscht ist? Sollte es nicht bei Berichten und Interviews mit Politikern eher darum gehen, wie, sagen wir, mit der Verteilung des wachsenden gesellschaftlichen Reichtums umgegangen werden soll?
Was also tun? Es ist ein erster Schritt, über die Fehleranfälligkeit und die Wirkung von Wahlprognosen zu sprechen, aber er wird nicht reichen. Wir sollten ein Verbot von Meinungsumfragen kurz vor den Wahlen erwägen, wie es in anderen europäischen Ländern längst Realität ist. Wenigstens für die letzten ein oder zwei Wochen sollten sich die Debatten ausschließlich um politische Themen drehen.
Und wenn es trotzdem einzelne Umfrageergebnisse gibt, wer zwingt denn die Medien, darüber zu berichten? Auf die Gefahr, unter meinen Kollegen und bei Journalisten Ärger zu erregen: Der Fetisch der scheinbar objektiven, letztlich unpolitischen Zahlen schadet unserer Demokratie.
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