Neandertaler
Acht Monate nach seinem siebten Geburtstag setzte ein Unglück oder eine Krankheit dem Leben des Kindes ein Ende. Dabei war der kleine Neandertaler mit seiner stämmigen Figur, einer Größe von 1,11 Metern und einem Gewicht von ungefähr 26 Kilogramm auf dem besten Weg zu einem vollwertigen Jäger und Sammler. Für Forscher sind die 49 000 Jahre alten, aber gut erhaltenen Überreste des Frühmenschenkindes aus der El-Sidrón-Höhle im Norden Spaniens ein Glücksfall. Sie geben Hinweise auf die Entwicklung des Schädels und Gehirns und Unterschiede im Wachstum von Menschen und Neandertalern, die Antonio Rosas vom Nationalen Naturkundemuseum in Madrid und Kollegen im Fachblatt Science beschreiben.

Eng verwandt und eher Vegetarier

Schon lange versuchen Forscher die biologischen und sozialen Unterschiede zwischen Homo sapiens und Neandertalern herauszuarbeiten, indem sie die Überreste mehrerer Neandertaler-Individuen untersuchen, die in der Höhle von El Sidrón entdeckt wurden. Erbgutanalysen haben beispielsweise ergeben, dass die Männer unter den sieben Erwachsenen eng miteinander verwandt waren und wohl zur gleichen Sippe gehörten. Die drei Frauen dagegen stammten aus unterschiedlichen Gruppen. Offenbar blieben Söhne also in dem Clan, in dem sie geboren wurden, während sich die Töchter anderen Gruppen anschlossen, wenn sie erwachsen wurden.

Ein Verhalten, das sich auch bei ursprünglich lebenden Jäger-und-Sammler-Völkern des modernen Menschen findet. Überraschendes fanden die Forscher, als sie den Speiseplan der El-Sidrón-Neandertaler rekonstruierten. Neben Pilzen und Moos aßen sie die auch heute noch in Mittelmeerländern beliebten Pinienkerne, ließen energiereiche Tierprodukte aber weitgehend links liegen. Das ist insofern erstaunlich, als ihre kräftigere und stämmigere Statur und das größere Gehirn mehr Energie brauchten als bei Homo sapiens. Vor allem in jungen Jahren, in denen das Gehirn noch wächst, wäre eigentlich energiereiche Nahrung nötig.

Neandertaler-Kinder wuchsen nicht langsamer aber länger

Allerdings wussten Anthropologen bislang nicht, ob sich Neandertaler-Kinder ähnlich wie Kinder heutiger Menschen entwickelten. Diese Frage lässt sich nun mithilfe der Knochenfunde aus der El-Sidrón-Höhle beantworten. Sie stammen von zwei Kindern einer der Frauen, eines starb als Kleinkind. Im Kiefer des siebenjährigen Bruders steckte noch ein Teil der Milchzähne, aber auch die ersten dauerhaften Zähne hatten sich bereits entwickelt. Anhand dieser Zähne konnten die Forscher das Alter des Jungen sehr präzise auf 7,7 Jahre bestimmen.

Im Vergleich zu einem gleichaltrigen modernen Menschen findet Rosas Team keine gravierenden Unterschiede in der Entwicklung des Neandertaler-Jungen - bis auf zwei Ausnahmen. Die Wirbelsäule des Siebenjährigen entspricht eher der eines vier- bis sechsjährigen Homo-sapiens-Jungen. Zum anderen ist das Gehirn eines siebenjährigen Grundschülers heutzutage zu rund 95 Prozent ausgewachsen, während das Denkorgan des Neandertaler-Jungen erst 87,5 Prozent der Größe des Gehirns eines Erwachsenen erreicht hatte. Das wiederum bedeutet keineswegs, dass die Neandertaler langsamer wuchsen, sondern spiegele eher den unterschiedlichen Körperbau wider, meinen die Forscher. Bei gleicher Wachstumsgeschwindigkeit, auf die ja alle anderen Körpermerkmale hinweisen, braucht der Organismus einfach länger, den stämmigeren und größeren Körper und das größere Gehirn eines Neandertalers auswachsen zu lassen. Neandertaler wuchsen also nicht langsamer, sondern länger.

Quelle: Roland Knauer für Der Tagesspiegel