Fukushima
Auch mehr als sechs Jahre nach dem Atomunfall im Kraftwerk Fukushima Daiichi ist die Katastrophe für Japan noch lange nicht vorbei. Noch immer tritt aus den Reaktoren radioaktives Material aus undichten Stellen und Lecks aus, gelangt in die Atmosphäre, das Grundwasser und den Ozean.

Auch wenn die Strahlenbelastung längst nicht mehr so hoch ist wie direkt nach dem Unglück, sind die Gebiete rund um Fukushima daher nach wie vor stark verseucht. Und Tag für Tag werden sie weiter kontaminiert.

Doch nicht nur in unmittelbarer Nähe des Unfallorts ist die Kontamination groß. Wissenschaftler um Virginie Sanial von der Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts haben nun eine bisher unbekannte Stelle gefunden, an der sich radioaktives Material in großen Mengen angesammelt hat: an bis zu 100 Kilometer weit entfernten Stränden.

Für eine Untersuchung nahmen die Forscher zwischen 2013 und 2016 Boden- und Wasserproben an acht Stränden, die sich im Radius von rund 100 Kilometern um das Kraftwerk Fukushima Daiichi herum befinden (Fukushima: Bilder aus der atomaren Unterwelt - Roboter filmt geschmolzenen Kernbrennstoff (Video)).

Dabei stellten sie fest: Im Sand und im brackigen Grundwasser unterhalb der Strände hatten sich die Isotope Cäsium-134 und Cäsium-137 angereichert, die bei dem Atomunfall 2011 in großen Mengen freigeworden waren.

Besonders erstaunlich: Die Konzentration des Radionuklids Cäsium-137 war in diesem Grundwasser bis zu zehnmal höher als die Kontamination des Ozeanwassers im Hafen von Fukushima - nur im Reaktor selbst sind die Werte noch höher. Der höchste gemessene Wert lag bei etwa 23.000 Becquerel pro Kubikmeter Wasser, wie das Team berichtet.

Zum Vergleich: Für Trinkwasser schreibt Japan ein Maximum von 10.000 Becquerel pro Kubikmeter vor. Auch im Vergleich zu der Belastung in Sedimenten am Meeresboden vor der Küste, war die Kontamination in den bis zu ein Meter tiefen Sandschichten unterhalb der Strände deutlich höher.

"Niemand hätte erwartet, dass die höchsten Cäsium-Konzentrationen heute nicht im Hafen des Atomkraftwerks gemessen werden können, sondern in kilometerweit entferntem Grundwasser unterm Sandstrand", sagt Sanial.

Doch wie ist das radioaktive Material überhaupt dorthin gelangt - und warum hat es sich in derart großen Mengen angereichert?

Die Forscher glauben, dass Meeresströmungen das Cäsium nach dem Unfall vom Unglücksort wegtransportierten. Tage oder Wochen später gelangte es dann an die Küste, wo es sich an der Oberfläche von Sandkörnern festsetzte und dort haften blieb.

Die mit Cäsium angereicherten Sandpartikel liegen seitdem nicht nur teilweise am Strand, sondern sind vor allem im Boden und im brackigen Grundwasser nachweisbar, wo sich Süß- und Salzwasser vermischen.

Tatsächlich bestätigten Experimente im Labor: Das radioaktive Material heftet sich mit Vorliebe an Sandkörner an. Doch da bleibt es nicht. Denn wird das Cäsium mit Salzwasser gespült, verliert es seine Haftung und wird wieder frei.

Das bedeutet: Je mehr Ozeanwasser durch Wellen und Gezeiten in den brackigen Grundwasserbereich unterhalb der Strände gelangt, desto salziger wird das Wasser - und desto mehr Cäsium wird freigesetzt und strömt wieder ins Meer (Fukushima: Die Tanks sind voll - kontaminiertes Wasser soll im Meer entsorgt werden).
Cäsium in Ozeanströmungen aus Fukushima
Über Ozeanströmungen gelangte das radioaktive Cäsium ins weit entfernte Grundwasser – und wird nun nach und nach wieder ins Meer freigesetzt
"Der Sand hat 2011 wie ein Schwamm gewirkt, der das radioaktive Material jetzt nur langsam freigibt", beschreibt Sanials Kollege Ken Buesseler das Phänomen. Wie viel kontaminiertes Wasser aber gelangt auf diese Weise zurück in den Ozean?

Den Schätzungen des Teams zufolge ist das Ausmaß in etwa so groß wie bei zwei anderen bereits bekannten Quellen: dem immer noch stattfindenden Ausfluss kontaminierten Kühlwassers aus den Reaktoren und dem Wasserzufluss aus Flüssen, über den das Cäsium des Fallouts ins Meer gelangt (Fukushima: Radioaktiver Niederschlag in den USA und Kanada festgestellt - Cäsium dringt immer tiefer in die Erde ein).

Weil das neu entdeckte kontaminierte Wasser nicht als Trinkwasser verwendet wird, besteht laut den Wissenschaftlern zwar keine Gesundheitsgefahr. Nichtsdestotrotz sei dieser unerwartete Weg für die Speicherung und Wiederfreisetzung von Radionukliden von großer Bedeutung.

"Weltweit sind rund 440 nukleare Reaktoren in Betrieb und schätzungsweise die Hälfte davon befindet sich in Küstennähe", schreiben die Forscher.

"Diese bisher unbekannte Quelle andauernder Kontamination von Küstenregionen und Ozeanen muss deshalb in Zukunft auf jeden Fall in Betracht gezogen werden - sowohl beim Monitoring aktiver Kraftwerke als auch für Szenarien, die künftige Unglücke betreffen", schließen sie (Fukushima und die Erdbeben-Lüge: Das japanische 9/11 heißt 3/11).