Angela Merkel Schloss Bellevue
Bundeskanzlerin Angela Merkel erneut in Rot-Schwarz: Vor dem Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist die SPD in einer heiklen Situation, Berlin, 20. November 2017.
Seit September verfügt Deutschland über keine vom Parlament legitimierte Regierung mehr. Das hindert die Minister nicht, weitgehende Entscheidungen zu treffen. Auslandsmissionen, Rüstungsprojekte und Glyphosateinsatz laufen weiter.

Deutschland leistet sich mehr Berufspolitiker als die meisten anderen Länder. Zumindest was die Pro-Kopf-Verteilung an Abgeordneten betrifft, ist die Wahlbevölkerung durch inzwischen 709 Abgeordnete besser repräsentiert als in jedem anderen Land. Laut dem Bund der Steuerzahler lässt sich die öffentliche Hand die wichtigste Dienstleistung gut 517 Millionen Euro kosten, allein im kommenden Jahr 2018.

Für die gesamte Legislatur werden also mehr als zwei Milliarden Euro auflaufen, vorausgesetzt, die Parteien schaffen es, eine Regierung zu bilden. Allein: Bisher haben die beteiligten Parteivertreter genau dies nicht erreicht. Daher kann, Neuwahlen eingerechnet, der neue Sechs-Parteien-Bundestag noch viel teurer werden.

Weil recht unerfahrene FDP-Politiker, regierungsfixierte Grüne und amtierende CSU-Politiker sich nicht einigen konnten, hängt die Demokratie nun für Wochen, wenn nicht Monate in der Luft. Laut Grundgesetz endete die Amtszeit von Angela Merkel bereits am 24. Oktober, als die frisch gewählten Abgeordneten erstmals zusammentraten.

Allerdings kann der Bundespräsident die Kanzlerin ersuchen, dass sie weiter die Geschäfte führt, bis die Abgeordneten eine neue Regierung einsetzen. Und auf Bitte der Bundeskanzlerin bleiben die Minister vorläufig im Amt. Aktuell führt also eine Regierung kommissarisch das Land, ohne dass sie über ein parlamentarisches Mandat verfügt.

Die Beschlusskraft der geschäftsführenden Großen Koalition mindert die unsicheren Verhältnisse nicht. Gleich in der ersten Sitzung verlängerten die Abgeordneten aus dem Regierungslager die äußerst teuren und umstrittenen Auslandseinsätze der Bundeswehr. In den Koalitionsverhandlungen hatten die Grünen, laut deren außenpolitischem Sprecher Omid Nouripur, mindestens drei davon in Frage gestellt. In Mali, Afghanistan und dem Irak sei der Staatsaufbau wichtiger, als weitere Soldaten zu schicken, so die Grünen. Eigentlich hätten die grünen Abgeordneten nun geschlossen gegen die Verlängerung stimmen können.

Keine unabhängige Mehrheit: Keine Regierung ist auch keine Lösung

Die Fraktion Die Linke nutzt die Gelegenheit, die neuen Abgeordneten aufzufordern, die Auslandseinsätze nicht zu verlängern. Am Beispiel des NATO-Einsatzes Sea Guardian kritisierte deren verteidigungspolitischer Sprecher, Alexander Neu, die "gefühlt hundertste Verlängerung dieser Mission". Die Antwort auf die "selbst erzeugte Instabilität" in vielen Regionen könne nicht noch mehr Militär sein, so der Tenor. Ähnlich argumentierte die Abgeordnete der Linken, Kathrin Vogler, mit Blick auf den Sudan. Obwohl die Sicherheitslage sich in Darfur verbessere, während sich die Situation bei den Menschenrechten verschlechtert, verlängere die Bundesregierung pauschal den deutschen Militäreinsatz.

Die Strategie der Linken offensichtlich besteht darin, dass sie nach parlamentarischen Mehrheiten für ihre Vorschläge sucht. Eigentlich müssten, so das Kalkül der Linken, in allen Fraktionen Abgeordnete bereit sein, die Regierungsarbeit mit eigenen Mehrheiten direkt zu beeinflussen. Dies betrifft auch andere Bereiche der Militärpolitik, bei der sich quer durch alle Fraktionen Kritiker finden.

So beschloss die geschäftsführende Regierung, dass Deutschland sich verbindlich an der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Pesco) beteiligt. Hinter dem neutralen Begriff verbirgt sich ein umfangreiches Rüstungspogramm der Europäischen Union. Es legt die Mitgliedsländer pauschal darauf fest, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen, egal was die nationalen Parlamente dazu sagen. In der vergangenen Woche forderten Sahra Wagenknecht und ihre Genossen die Abgeordneten auf, sich nicht an diesem weitreichenden Projekt zu beteiligen. Dass sie für diesen Antrag eine Mehrheit finden, ist unwahrscheinlich.

Das gilt vermutlich ebenso für ihre Pläne in der kommenden Sitzungswoche. Dann werden die Linken vorschlagen, dass Deutschland aus den Sanktionen gegen Russland aussteigt. Auch in diesem Fall bestehen quer durch die Fraktionen erhebliche Zweifel daran, ob diese einmal beschlossenen Maßnahmen noch Sinn machen.

Allerdings scheinen sich kaum ausreichend Abgeordnete zu finden, welche die kommissarische Regierung zum Einlenken zwingen. Es ist also kaum zu erwarten, dass der Bundestag, wie von den Linken beantragt, die Bundesregierung auffordert, die Sanktionen gegen russische Abgeordnete und Wirtschaftsunternehmen zu beenden. Tatsache ist aber auch, dass inzwischen von der CSU bis zur AfD sehr viele Abgeordnete diese Sanktionen kritisch sehen.

Wenn es eine Mehrheit gegen Auslandseinsätze, Rüstungsprogramme und Sanktionen gäbe, wäre die geschäftsführende Regierung tatsächlich gezwungen zu handeln. Während die Abgeordneten sich also angesichts der historischen Situation weitgehend in Selbstbeschränkung üben, schieben die amtierenden Minister schnell noch Projekte durch den Regierungsalltag, die unter einer möglichen neuen Regierung gefährdet wären. Den schwersten Fall lieferte soeben der Landwirtschaftsminister Christian Schmidt.

Glyphosat vergiftet Atmosphäre in Koalitionsverhandlungen

Der CSU-Politiker hatte am Montag in Brüssel zugestimmt, dass die EU die Zulassung des Umweltgifts Glyphosat verlängert. Beinahe alle Fraktionen des Deutschen Bundestags hatten sich gegen das Umweltvernichtungsmittel ausgesprochen, auch der kommissarische Koalitionspartner SPD. Die Geschäftsordnung der Bundesregierung sieht in einem solchen eine Enthaltung vor.

Aber die Landwirte und der amerikanische Monolist Monsanto vertreten die Meinung, der Stoff sei komplett unschädlich, eine Haltung, der sich Christian Schmidt, nebenbei Präsident der Deutschen Atlantischen Gesellschaft, gerne anschloss. Monsanto, laut Tagesschau "das unbeliebteste Unternehmen der Welt", hatte in der Vergangenheit sogar Wissenschaftler gekauft, damit diese positiv über Glyphosat berichten.


In einer Situation, in der ein Teil der SPD-Spitze sich genötigt sieht, erneut mit der Bundeskanzlerin über eine Große Koalition zu verhandeln, richtet der Alleingang des Landwirtschaftsministers größtmöglichen Schaden an. Seine Kabinettskollegin Barbara Hendricks aus der SPD forderte bereits "vertrauensbildende Maßnahmen" vom Kanzleramt.

Eine Entlassung Schmidts wäre ein solcher Schritt, so Hendriks auf Nachfrage des Deutschlandfunk. Inzwischen ging die Bundeskanzlerin deutlich auf Distanz zu Christian Schmidt. Mit seiner Zustimmung zu dem Totalherbizid habe der Landwirtschaftsminister "gegen die Geschäftsordnung der Regierung verstoßen", so Merkel: "Das entsprach nicht der Weisungslage."

Denjenigen, die für die SPD-Spitze gerade zu den Verhandlungen für eine mögliche Neuauflage der Großen Koalition gerufen wurden, wird dieser Vorgang kaum mehr Zuversicht geben. Martin Schulz und Andrea Nahles werden der SPD-Spitze zwar vorschlagen, dass man sich mit der CDU über das Thema unterhält.

Allerdings wissen sie, dass außerhalb des konservativen Seeheimer Kreises, und abgesehen von einigen Spitzenfunktionären, niemand in der SPD ein solches Vorgehen als sinnvoll betrachtet. Und so nennt auch der Parteichef zunächst nur viele Bedingungen in der Sozialpolitik, der Gesundheitspolitik und für die Zukunft der EU, die von der CDU kaum zu akzeptieren sind.

"Auch in innenpolitisch bewegten Zeiten ..."

Auch Außenminister Sigmar Gabriel verhält sich bisher öffentlich nicht zu Koalitionsverhandlungen. Der beliebteste Politiker der SPD nutzt unterdessen seine kommissarische Amtsverlängerung, um mehrmals um die Welt zu fliegen. Am Montag vertrat er Deutschland beim Afrika-Gipfel in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste. Am Mittwoch eröffnete er den deutsch-russischen Rohstoffgipfel in Sankt Petersburg.

"Wir haben alle ein gemeinsames Interesse daran, die politischen Krisen zu überwinden", so Gabriel vor russischen und deutschen Unternehmern und Politikern. Am Tag darauf landete er bereits in Washington, um seinen Kollegen Rex Tillerson zu treffen, von dem es an diesem Tag in der New York Times hieß, dass Donald Trump ihn ablösen will.

Es handelt sich bereits um seinen vierten Besuch in der amerikanischen Hauptstadt seit seinem Amtsantritt im Januar. Und das Auswärtige Amt lässt deutlich durchblicken, dass es sich auch bei dieser Reise nicht um einen reinen Freundschaftsbesuch handelt. Bereits im August musste Gabriel den Amerikanern deutliche Positionen zu ihren geplanten neuen Sanktionen mitteilen, die gezielt gegen deutsche und russische Unternehmen gerichtet waren. Beim aktuellen Besuch geht es um das Atomabkommen mit Iran, das Gabriel und Steinmeier maßgeblich angeschoben hatten.

Die Trump-Regierung sucht seit Monaten nach Wegen, gemeinsam mit Israel und Saudi-Arabien eine neue Konfrontation gegenüber dem Iran vom Zaun zu brechen. Alle EU-Staaten, selbst das traditionell atlantisch ausgerichtete Großbritannien, beharren darauf, dass der sogenannte 5+1-Vertrag nicht angefasst wird. Gabriel machte bereits vor seiner Abreise klar, dass die "strikte Umsetzung des Abkommens durch alle Seiten" sehr wichtig sei: "Falls das Abkommen scheitert, wäre dies ein verheerendes Signal in Richtung Aufrüstung in der Region und weltweit."

Letztlich gehe es darum, so Gabriel, dass Konflikte begrenzt werden, indem man bestehende "Regelungsmechanismen" nutzt. Der diplomatische Hinweis lautet, dass einmal getroffene Regelungen nicht aufgegeben werden sollten, um Konflikte auszuweiten. Für das transatlantische Verhältnis sind dies bereits ungewöhnlich deutliche Töne, zumal auch noch der Konflikt in der Ostukraine, die "schwelende Krise am Persischen Golf" und die Nordkorea-Krise auf dem Programm stehen.

"Auch in innenpolitisch bewegten Zeiten steht die Welt nicht still", heißt es entschuldigend beim Auswärtigen Amt. Seine Reisetätigkeit hielt Gabriel jedoch nicht davon ab, den Genossen in Berlin einen öffentlichen Ratschlag zu geben. Eine Große Koalition sei für ihn "kein Selbstläufer", trat der Außenminister beim ZDF auf die Bremse. Weder stehe seine Partei unter Zeitdruck, noch dürfe irgendjemand erwarten, dass sie nun "sofort sagt: wunderbar, wir machen weiter". Auch der SPD-Vize Olaf Scholz betonte in der Talkshow Maybrit Illner, seine Partei werde sich "Zeit lassen".

Damit zeichnet sich deutlich ab, dass das Jahr in Deutschland mit einer geschäftsführenden Regierung zu Ende geht. Bisher fordert zwar keine Partei ausdrücklich Neuwahlen, aber genau so wenig scheint die CDU als bisher stärkste Fraktion, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzubringen. Mit jeder Woche steigt insofern die Wahrscheinlichkeit, dass die Wähler ihren Willen noch einmal zum Ausdruck bringen müssen, dann hoffentlich etwas deutlicher.