20 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt sind nach Schätzungen Männer. Doch viele Hilfsangebote kümmern sich nur um Frauen. Dürfen Männer keine Opfer sein? Das Feature über dieses tabuisierte Phänomen wurde gerade mit dem Journalisten-Preis des "Weißen Ring" ausgezeichnet.
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© Nik Shuliahin /( UnsplashKörperliche Überlegenheit hilft vielen Männern bei häuslicher und sexueller Gewalt nicht weiter (Symbolbild).
René Pickhardt: "Ich hab drei Jahre lang in 'ner Beziehung gelebt, in der ich häusliche Gewalt erlebt hab. Das war also psychische Gewalt, körperliche Gewalt und nach der Trennung auch 'n sexueller Übergriff. Ja, durch diese Gewalterfahrung bin ich an 'ner posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt, die ich seit zwei Jahren behandele."

René Pickhardt ist 31 Jahre alt und 1,88 Meter groß. Ein durchtrainierter Mann mit kräftigem Händedruck und offenem Blick. Die blonden Haare hat er zu einem Zopf am Hinterkopf zusammengeknotet. Pickhardt promoviert an der Uni Koblenz im Fachbereich Informatik über Sprachverarbeitung in Computern.

Pickhardt hat gründlich darüber nachgedacht, ob er diesem Interview zustimmen soll, denn er will über etwas reden, über das man (bzw. Mann) eigentlich nicht spricht: über Männer, die von ihren Frauen geschlagen, gedemütigt, sexuell belästigt oder sogar vergewaltigt werden. René Pickhardt will seine eigene Geschichte erzählen.

Vorurteile gegenüber männlichen Opfern

Über Männer, die Gewalt von Frauen erfahren, gibt es viele Vorurteile: Viele Menschen bezweifeln, dass sie überhaupt dieser Art von Gewalt ausgesetzt sind. Männer, so die gängige Annahme, können sich im Unterschied zu vielen weiblichen Gewaltopfern schließlich wehren. Sie sind meist größer und vor allem stärker als Frauen. Kein Mann muss sich Gewalt durch eine Frau gefallen lassen.

Zwei Jahre ist es her, dass René Pickhardt mit einer Frau zusammen ist, die den Drang hat, ihn zu kontrollieren. Er erlebt, wie seine Partnerin Grenzen immer weiter verschiebt: Anfangs versucht sie ihm vorzuschreiben, mit wem er Kontakt haben darf. Später schubst oder kneift sie ihn, gibt ihm auch mal eine Ohrfeige.

Die Anlässe für diese Handgreiflichkeiten sind oft Meinungsverschiedenheiten. Seinem Körper fügen sie nie mehr als ein paar blaue Flecken zu. Seine Seele aber nimmt ganz langsam einen Schaden, der sich viel später als mutmaßlich unheilbar herausstellen wird. Warum wehrt er sich damals nicht?
Ja, vielleicht hatte ich diesen Reflex, mich zu wehren, aber ich bin halt hauptsächlich in eine Schockstarre gefallen, also das heißt, ich konnte mich da gar nicht wehren. Ich bin einfach, ja, verstummt sozusagen im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn ich dann außerhalb der Beziehung war, oder wenn ich alleine war, habe ich oft gemerkt, dass mir diese Beziehung nicht gut tut, dass ich mich davon abgrenzen möchte, dass ich mich eigentlich gerne wehren möchte. Aber sobald wir wieder, ich sag mal, im Innenverhältnis waren, ist mir das nicht gelungen.
Dabei macht René Pickhardt nicht den Eindruck, dass es ihm an Selbstbewusstsein mangelt. Er ist freundlich, vertritt aber auch ganz klar seinen Standpunkt. Wie kann es sein, dass dieser Mann Gewalt von einer Frau erduldet hat?

Hilfe nur für weibliche Gewaltopfer

In Hamburg lebt der Psychologe Thomas Krieg. Pro Jahr betreut er etwa fünf bis sechs männliche Gewaltopfer. Er kann erklären, unter welchen Umständen Männer Opfer von häuslicher oder sexueller Gewalt werden.
Das ist jetzt nicht so, dass der typische Mann irgendwie klein ist und geschlagen wird, sich nicht wehren kann. Das sind Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, aus allen Bildungsschichten. Es sind irgendwo Menschen wie du und ich. Also, es ist jeder. Es sind Männer, die eigentlich sehr selbstbewusst sind, die gut im Beruf und im Leben irgendwo klarkommen und die dann vielleicht manchmal denken, sie dürften sich nicht wehren, wenn die Partnerin das irgendwie macht. Es sind Männer, die manchmal abhängig sind von Partnerinnen. Es sind Männer, die sich manchmal 'ne Partnerin gesucht haben, die ähnliche Muster wiederholen, wie es vielleicht früher in der Herkunftsfamilie passiert ist. Das sind ganz unterschiedliche Menschen.
Ihre körperliche Überlegenheit hilft vielen Männern deshalb bei häuslicher und sexueller Gewalt meist nicht weiter. Dazu kommt, dass Gewalt, die von Frauen ausgeht, häufig gar nicht körperlich ausgeübt wird.
Also Frauen, würde ich sagen, tendieren im Allgemeinen mehr zu psychischer Gewalt. Also eher noch zu Psychoterror, aber psychische und physische Gewalt - also manchmal ist es schwer auseinander zu dividieren.
Warum aber neigen manche Frauen in einer Beziehung überhaupt zu Gewalt?
Du bist nie für deinen Sohn da, du kümmerst dich nie. Oder: Du lässt mich immer irgendwo allein. Oder: Ich muss immer alles machen und bin immer alleine. Du erkennst mich nicht wirklich an. Also da gibt's ganz, also vom Kleinsten bis ins Größte. Häufig eher so der psychosoziale Feinstaub, irgendwo in ner Beziehung, der dann irgendwo so niedernieselt. Manchmal ganz große Themen, wenn der Partner plötzlich arbeitslos ist und sich die Beziehung verändert oder wenn die Partnerschaft in die nächste Phase geht, wenn man sich verlobt oder wenn man geheiratet hat, oder wenn auf einmal irgendwie nen Kind da ist und sich dann ja irgendwie das Verhältnis zueinander ja irgendwo auch verändert nochmal und man auch anders miteinander umgehen kann.
Über Gewalt in der Beziehung zu sprechen, fällt jedem Menschen schwer. Thomas Krieg erlebt aber, dass Männer damit noch ein viel größeres Problem haben als Frauen.

Sich selbst einzugestehen, dass sie in so einer Situation Hilfe brauchen, empfinden viele Männer als Schwäche. Sie passt nicht ins gesellschaftliche Bild des Ernährers und des starken Mannes, der niemals weint, das viele Jungen schon von klein auf lernen.

René Pickhardt gehört damals zu den Männern, die gerne Hilfe annehmen würden. Pickhardt wendet sich in Koblenz an einen Verein für Opfer von häuslicher Gewalt. Die Antwort: Man kümmere sich nur um weibliche Gewaltopfer.
Ich habe gefragt: Habt ihr vielleicht irgendwie eine andere Adresse und dann habeb sie gesagt: Ja, probier es mal bei der Lebenshilfe von der Caritas und dann hab ich dort angerufen und hab das Gleiche erfahren.
"Die Ärztin wusste nicht, was sie mit mir machen soll"

Irgendwann hält René Pickhardt es nicht mehr aus und stellt seiner Partnerin ein Ultimatum: Sollte sie ihm gegenüber noch einmal gewalttätig werden, wird er sich von ihr trennen. Eine nachvollziehbare, aber unrealistische Forderung. Es dauert nur wenige Tage, bis es zum nächsten Übergriff kommt und Pickhardt seine Ankündigung wahr macht.

Eine Woche später trifft er sich wieder mit seiner Ex-Freundin in ihrer Wohnung - sie will noch einmal mit ihm reden. Warum er dem Treffen damals zugestimmt hat, ist Pickhardt heute selbst nicht mehr ganz klar. Es ist der Tag, an dem seine Ex-Freundin ihn vergewaltigen wird.
wartebereich krankenhaus
© dpa/picture-alliance/Holger HollemannFür vergewaltigte Männer gibt es keine Hilfsstrukturen in Deutschland.
Über die Details und den genauen Ablauf der Tat möchte Pickhardt nicht sprechen, wohl aber darüber, was ihm in den darauffolgenden Stunden, Tagen, Wochen und Monaten wiederfahren ist. Für Pickhardt war das, was auf die Tat folgte, fast noch schlimmer als die Tat selbst.
Nachdem es dann zu diesem sexuellen Übergriff kam, konnte ich Menschen nicht mehr angucken, konnte nicht mehr sprechen und dann bin ich zu meinem besten Freund gegangen und ja, die haben einen Rettungswagen geholt. Und ich erinnere mich, ich war erstmal ewig unter der Dusche, also bestimmt eine Dreiviertelstunde, weil ich mich so eklig fand, und dann kamen irgendwann die Sanis und die haben mich gesehen und das erste, was die gesagt haben: Ganz klar, nehmen wir mit.

Dann sind wir runter in den Rettungswagen gegangen und dann ging es irgendwie nicht weiter. Und ich hab nur gesehen, wie die Ärztin draußen die ganze Zeit mit dem Handy telefoniert hat. Irgendwann hab ich dann erfahren, dass es keinen Prozess in Deutschland gibt für männliche Vergewaltigungsopfer. Also, eine Frau würde man halt zum Gynäkologen bringen, das passiert beim Mann wohl nicht. Und Krankenhäuser wollten mich nicht aufnehmen im Umkreis und die Ärztin wusste halt nicht, was sie mit mir machen soll. Dann wurde mir dazu geraten, dass ich unterschreibe, dass ich auf eigene Verantwortung den Rettungswagen von seiner Hilfspflicht entlasse.
Ist Deutschland auf männliche Gewaltopfer wie René Pickhardt also gar nicht vorbereitet? Ein Blick in die Zahlen scheint genau das zu belegen: Die meisten Beratungsstellen richten sich ausschließlich an Frauen. In psychiatrischen Kliniken gibt es Stationen für weibliche, aber nie für männliche Gewaltopfer. Mehr als 430 Frauenhäusern stehen gerade einmal drei Männerhäuser gegenüber.

Nur eine Studie über Gewalt gegen Männer

Aber wie häufig werden Männer in Deutschland tatsächlich Opfer von sexueller Gewalt? Experten sind sich darüber nicht ganz einig. Einige vermuten, dass jedes fünfte häusliche Gewaltopfer ein Mann ist. Andere gehen davon aus, dass Männer und Frauen gleichermaßen Opfer werden. Verlässliche Zahlen gibt es nicht.


Kommentar: Lesen Sie dazu den folgenden Artikel, der eine ähnliche Aussage trifft, dazu ein längerer Auszug:

Die Behauptung: Laut feministischen Stimmen, die starken Anklang in den Mainstream-Medien finden, erlebt die westliche Welt gerade eine Vergewaltigungs-Epidemie, die von einer tief verwurzelten "Vergewaltigungskultur" stammt. Im Grunde sind nach dieser Behauptung alle Männer zumindest potentiell, wenn nicht sogar tatsächlich, Vergewaltiger.
Männer haben im Großen und Ganzen einen Vergewaltigungs-Schalter. Alle Männer sind zur Vergewaltigung fähig.

~ Greg Laden
Die "Zahlen", die präsentiert werden um die "Vergewaltigungs-Epidemie" zu untermauern, sind beunruhigend.

Eine amerikanische Frau wird angeblich mit einer Wahrscheinlichkeit von 26 % einmal in ihrem Leben vergewaltigt. Diese Situation ist auf Universitätsgeländen [Campusse] sogar noch schlimmer: Angeblich erlebt eine von fünf Studentinnen sexuelle Gewalt während ihrer Studienzeit in der Universität. Zum Beispiel wurde die Häufigkeit von Vergewaltigungen in der Berkeley Universität auf 3.000 Fälle pro Jahr geschätzt (Gilbert 2005). Also beträgt (nach diesen Zahlen) die allgemeine Häufigkeit der Vergewaltigung bei 20.000 Studentinnen über einen durchschnittlichen Zeitraum von vier Jahren, mehr als 50 %.

Die Wirklichkeit: Schauen wir uns dazu zum Beispiel den Fall in Berkeley an. Von den 3.000 prognostizierten Vergewaltigungen pro Jahr, suchen nur 40-80 Studenten jedes Jahr nach Hilfe im Beratungszentrum für Vergewaltigungen und nur zwei haben sich bei der Polizei gemeldet. (Bei diesen Meldungen handelt es sich um Anzeigen und nicht Verurteilungen oder Schuldsprechungen)
Als die Opfer von Koss direkt gefragt wurden,
  • glaubten 73 % derjenigen, die ungewollten Sex ausprobiert hatten, dass sie nicht vergewaltigt wurden
  • hatten 42 % später Sex mit dem Mann, der sie "vergewaltigt" hatte
~ Dutton, 2008



Während es in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten diverse Studien über Gewalt gegen Frauen gab, gibt es über Gewalt gegen Männer genau eine einzige. Ihre Situation ist also nicht besonders gut erforscht. Die Studie stammt aus dem Jahr 2004 und wurde damals vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben. Weil mit 488 Männern die Zahl der Befragten recht klein und wenig repräsentativ war, wurde die Studie oft kritisiert.

Ergebnis der Befragung war, dass Männer in ihrer Freizeit und in der Öffentlichkeit am meisten körperliche Gewalt erfahren - beispielsweise durch Prügeleien. Jeder vierte befragte Mann gab aber auch an, in seiner Partnerschaft schon einmal Gewalt erlebt zu haben. Das entspricht genau der Anzahl Frauen, die in Befragungen angeben, Gewalt zu erleben. Der Diplom-Pädagoge Ralf Puchert war damals an der Konzeption der Männer-Studie beteiligt. Ich will von ihm wissen, welche Auswirkungen sie hatte.

Puchert:
Nee, es ist wirklich sehr wenig damit passiert insgesamt. Also ich denke es hat sich ein bisschen was im öffentlichen Diskurs verschoben. Insgesamt so die Optionen, die Möglichkeiten, dass Männern Gewalt widerfährt und selbst im häuslichen und auch sexuellen Bereich, ist nicht mehr völlig absurd, wie es damals zum Teil war.
Mehr Hilfsangebote speziell für Männer wurden nach der Studie nicht ins Leben gerufen.

Dabei hättet René Pickhardt so etwas gut gebrauchen können. Als der Krankenwagen ihn am Tag der Vergewaltigung durch seine damalige Partnerin nicht mitnimmt, weil keine Klinik sich um ein männliches Vergewaltigungsopfer kümmern will, besteht sein bester Freund darauf, dass die Notärztin wenigstens für den nächsten Tag einen Termin bei einem Psychiater vereinbart. Der Psychiater, den er am nächsten Morgen trifft, bietet Pickhardt die Aufnahme in die stationäre Psychiatrie an. Eine Woche dauert es, bis er sich dort soweit erholt hat, dass er mit den Ärzten und Schwestern reden kann.

Es geht darum, als Opfer anerkannt zu werden

René Pickhardt wird Ende Oktober 2014 nach 30 Tagen in der Psychiatrie entlassen. Er erzählt, dass er sich damals so gut fühlt wie selten zuvor. Die Therapeuten haben es geschafft, sein Selbstbewusstsein zu stärken. Er ist wieder in der Lage, mit anderen Menschen zu sprechen. Doch er merkt schnell, dass der Alltag nicht ganz so einfach ist, wie er zunächst geglaubt hatte. Immer wieder erlebt er die Vergewaltigung in Flashbacks aufs Neue. Er sucht sich deshalb ambulante Hilfe bei einem Therapeuten, bei dem er bis heute in Behandlung ist. Anfang dieses Jahres geht er noch einmal für sechs Wochen zur Reha in eine Klinik für posttraumatische Belastungsstörungen. Heute fühlt er sich deutlich stabiler, aber...
Ich merk schon noch, wie mich das in meinem täglichen Leben belastet. Also mein Job fällt mir nicht mehr so leicht, seit ich das erlebt habe. Meine Stressregulation funktioniert nicht mehr so gut und dadurch klappen halt bestimmte Tätigkeiten nicht mehr so gut.
Pickhardt leidet häufig unter starken Kopfschmerzen. Fast täglich nimmt er sich Zeit für Meditationsübungen, die er in der Klinik gelernt hat. Er spielt mit dem Gedanken, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, damit andere Männer die Hilfe bekommen, die er selbst gebraucht hätte.

Trotz der Gewalt, die er erfahren hat, lebt René Pickhardt heute wieder in einer Beziehung mit einer Frau. Wie gelingt ihm das? Haben die Gewalttaten, die ihm von seiner ehemaligen Partnerin angetan wurden, nicht auch sein Frauenbild verändert?
Ich glaube, das hat mein Menschenbild verändert, aber nicht mein Frauenbild an sich. Ich glaube, es gibt einfach Menschen, die aggressiv sind und die ihre Aggressionen nicht gut regulieren können - und ich glaube, das kann Männern wie Frauen passieren.
Obwohl René Pickhardt den Ablauf der Tat noch am Abend des Vorfalls aufgeschrieben und von der Täterin sogar eine Bestätigung darüber hat, dass sie wirklich so passiert ist, hat er die Frau bis heute nicht angezeigt. Er hat sich noch nicht entschieden, ob er das eines Tages nachholen wird.
Ich glaube halt nicht an unser System mit: jemanden ins Gefängnis stecken oder jemandem eine Haftstrafe geben. Das find ich halt... - das produziert keine Gerechtigkeit und auch ein Schmerzensgeld ändert da nichts, ja? Das heißt, wenn ich diese Anzeige stelle, ging es mir eigentlich nur darum, dass - ja, ich anerkannt bin als Opfer.
abr