Auch wenn Verbrecher es benutzen - ein Künstler kann sein Werk nicht bereuen. In letzter Konsequenz hieße das Zensur
Das Massaker von Utoya verwirrt die Geister. Der britische Sänger Morrissey, ein militanter Veganer - wobei sich in diesem Zusammenhang das Wort militant im Grunde verbietet - sagte bei einem Auftritt in Warschau, die Tat des norwegischen Massenmörders sei nichts im Vergleich zu dem, was täglich bei Fast-Food-Ketten passiere. Offensichtlich kann nicht nur Rindfleisch, sondern auch exzessiver Gemüsegenuss zu Gehirnerweichung führen.
Dass Lars von Trier zu merkwürdigen Einsichten neigt, ist gleichfalls nichts Neues. Auch der dänische Filmregisseur hat sich zu den Gräueln auf der Insel des Todes geäußert. Er bereue seinen Film „Dogville“, weil dieser Anders Breivik inspiriert haben könnte.
Der Attentäter bezeichnet „Dogville“ als einen seiner „Lieblingsfilme“. Es gibt bei Lars von Trier, wie bei vielen Cineasten, eine voyeuristische Neigung zu exzessiver Darstellung (psychischer) Gewalt. In „Dogville“ - das Werk entstand 2003 - wird eine junge Frau, gespielt von Nicole Kidman, von Bewohnern eines Dorfes gedemütigt, missbraucht, bis aufs Blut gequält. Eines Tages nimmt sie brutal Rache und lässt alle ihre Peiniger umbringen. Ein ähnliches Motiv gibt es übrigens auch bei Friedrich Dürrenmatts Klassiker „Der Besuch der alten Dame“ von 1956. Dürrenmatt gilt als großer Moralist, was häufig auch zur Verteidigung von Triers herangezogen wird - der moralisch-therapeutische Komplex. Nun sagt von Trier, dass die Schlussszene von „Dogville“ ihn „in sehr unangenehmer Weise an Utoya“ erinnere.
Das ist eine Zäsur. Dass Künstler öffentlich Selbstkritik üben und Reue zeigen, gehört eigentlich zu den stalinistischen Folterwerkzeugen. Von Trier aber scheint es ohne direkten äußeren Zwang zu tun. Hat er sich nicht auch in Cannes, auf einer Pressekonferenz der Filmfestspiele, in bizarren Äußerungen über die Nazis verheddert? Hat unter Umständen Lars von Triers missverständliche Sympathiebekundung für Hitler Anders Breivik imponiert - und nicht der „Dogville“-Film?
Die Frage nach einer möglichen Mitschuld von Dichtern und Denkern an schrecklichen Taten ist nicht neu. Es ist die Frage nach den sogenannten geistigen Brandstiftern oder allgemeiner: nach einem möglichen Nachahmungseffekt. Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers von 1774 machte den gleichfalls noch sehr jungen Autor nicht nur schlagartig berühmt. Er brachte ihm auch massive Kritik ein („unchristlich“, „unanständig“), und tatsächlich soll sich eine Reihe unglücklich liebender Jünglinge an Werthers Selbstmord ein Beispiel genommen haben. Es ist nicht bekannt, dass Goethe das Werk bereut hätte. Was hätte es auch geändert? Das Buch gehört der Welt, der Weltliteratur.
Wer Kunst als Handlungsanleitung begreift, ist schon gestört. Charles Manson und seine Gang ermordeten 1969 in einer Villa in Los Angeles auf bestialische Weise fünf Menschen, unter ihnen die Schauspielerin Sharon Tate, die mit Roman Polanski verheiratet war. Manson hing satanischen Weltuntergangstheorien an. Er berief sich auf „Helter Skelter“, einen Song der Beatles vom „White Album“ aus dem Jahr 1968. Helter Skelter bekam durch die Manson-Morde einen unheimlichen Klang, man meint, Armageddon-Fanfaren zu hören - dabei ist es eigentlich ein Kinderwort, Bezeichnung für eine große Rutsche in britischen Vergnügungsparks. Der Wahnsinn lag in der Zeit. Wenn man den Beatles-Song „I am the Walrus“ rückwärts abspielt, sollen angeblich die Worte „Paul is dead“ zu hören sein, wurde damals in einer Verschwörungstheorie verbreitet. Paul McCartney hat die Zeiten überlebt. John Lennon wurde 1980 in New York erschossen. Mark David Chapman, sein Mörder, hatte ein Exemplar von J. D. Salingers The Catcher in the Rye in der Tasche. In dem Buch will er die Aufforderung gefunden haben, einen berühmten Menschen zu töten. So könne man selbst Berühmtheit erlangen.
Dieses Beispiel zeigt vollends die Absurdität, Künstler und Schriftsteller und ihre Kreationen im Nachhinein zur Verantwortung ziehen zu wollen, wenn sich Verbrecher und Wahnsinnige auf sie berufen. Ebenso abwegig ist eine Verantwortungsübernahme a priori - nichts anderes wäre das als Selbstzensur, und zwar systematisch. Kein Film, kein Buch, kein schwarzes oder weißes Album könnte mehr entstehen. Hat Dante sich überlegt, in welche Hände sein Inferno gelangen könnte? Und wie viele Fanatiker, Attentäter und Kreuzzügler haben sich auf Bibel und Koran berufen!
Kommentar: Hervey Cleckley führte in seinem Buch
Caricature of Love Beispiele von sogenannten, oder so erklärten Genies und Nobelpreisträgern an, die alles andere als psychisch gesund waren, sondern, in seinem Begriffen ausgedrückt, sexuell gestört. Von diesem Standpunkt aus betrachtet sind die Leser nicht nur ungeschützt gegenüber diesen Einflüssen, sondern übernehmen darüber hinaus unwissentlich gestörte Weltansichten, in dem Glauben, dass ein zum 'Genie' oder 'Nobelpreisträger' erklärter Künstler mit allem, was er von sich gibt, auch Recht hat - ein folgenreicher Trugschluß!
[Künstler], Poeten und Philospohen, die als Genies anerkannt sind, litten unter Halluzinationen, Wahnvorstellungen und anderen Ausprägungen von eindeutigen Psychosen. William Blake, Schopenhauer, Tasso, Strindberg, Van Gogh, Ezra Pound und Nietzsche sind nur ein paar wenige unter vielen, die hier genannt werden können. Einige von diesen, sowie auch andere Künstler, die weder homosexuell noch eindeutig psychotisch waren, haben, ob nun wahre Genies oder nicht, in ihren Arbeiten über krankhafte Auswertungen des Lebens berichtet. [...] Schopenhauer sah die weibliche Figur als unterdimensioniertes menschliches Wesen, bei dem die Hüften zu breit sind; auch der einfachste Schuljunge könnte sich fragen, warum dies für diesen unglücklichen Philosophen so erscheint.
[Harvey Cleckley, 1957: The Caricature of Love. A Discussion of Social, Psychiatric, and Literary Manifestations of Pathologic Sexuality. S. 193. Eigene Übersetzung]
Das heißt, dass ein Künstler oder eine Künstlerin eigentlich eine große Verantwortung gegenüber dem Publikum hat. Offensichtlich jedoch sind nicht alle Künstler in der Lage über diese Verantwortung hinweg zu reflektieren, bzw. zu realisieren, welche Auswirkung ihr geschriebenes Wort auf Mensch und Gesellschaft hat.
Cleckley stellt auch eine interessante Frage auf:
Wenn es wahr ist, dass einige, die allgemein als Genies der Literatur und Kunst angesehen werden, und in bedeutender Hinsicht passionierte Verfechter pathologischer Ansichten sind, ist es dann verwunderlich, dass sie mit jeder neuen Generation immer wieder neue Anhänger für sich gewinnen?
[ebd. S. 219. Eigene Übersetzung]
Kommentar: Hervey Cleckley führte in seinem Buch Caricature of Love Beispiele von sogenannten, oder so erklärten Genies und Nobelpreisträgern an, die alles andere als psychisch gesund waren, sondern, in seinem Begriffen ausgedrückt, sexuell gestört. Von diesem Standpunkt aus betrachtet sind die Leser nicht nur ungeschützt gegenüber diesen Einflüssen, sondern übernehmen darüber hinaus unwissentlich gestörte Weltansichten, in dem Glauben, dass ein zum 'Genie' oder 'Nobelpreisträger' erklärter Künstler mit allem, was er von sich gibt, auch Recht hat - ein folgenreicher Trugschluß! Das heißt, dass ein Künstler oder eine Künstlerin eigentlich eine große Verantwortung gegenüber dem Publikum hat. Offensichtlich jedoch sind nicht alle Künstler in der Lage über diese Verantwortung hinweg zu reflektieren, bzw. zu realisieren, welche Auswirkung ihr geschriebenes Wort auf Mensch und Gesellschaft hat.
Cleckley stellt auch eine interessante Frage auf: