Sie haben es vermutlich genauso erlebt wie ich: Vor ein paar Tagen tauchte in einigen "alternativen" Medien die Meldung auf - Kevin Kühnert, angeblich eine falsche Krankschreibung, um sich weiter als SPD-Generalsekretär bezahlen zu lassen. Rund 100.000 Euro stehen im Raum. Und die erste Reaktion? "Das wird groß!", dachte ich. Ein Skandal mitten im Herzen der SPD - das wird Wellen schlagen.

Kevin Kühnert
© KreativMedia Berlin / Marten Ron / Marten Ronneburg / IMAGOKevin Kühnert
Nur: Es schlug keine Wellen.

Kaum eine Schlagzeile, kein Brennpunkt, keine Talkshow, kaum ein kritischer Kommentar, kaum irgendwo ein wirklich bemerkbares Stirnrunzeln.

Nichts, nienta, nisto.

Dabei ist der Vorwurf brisant: Ein Spitzenpolitiker, der sich angeblich über Monate hinweg krankmelden lässt, ohne ernsthafte Krankheit - und damit ein sechsstelliges Gehalt kassiert. Keine Diagnose. Keine Abrechnung. Keine Bestätigung. Nur Schweigen. Das zumindest legt ein Gespräch nahe, das Kühnert selbst mit der Zeit führte - in dem er sich, vielleicht aus Übermut oder Nachlässigkeit, allem Anschein nach faktisch selbst entlarvte. Von einer echten Krankheit war dort keine Rede.


Kommentar: So etwas könnte man Korruption nennen.


Stellen Sie sich einmal vor: Ein ganz normaler Arbeitnehmer meldet sich über Monate krank, lässt sich sein Gehalt weiterzahlen - und würde dann in einem Interview andeuten, dass eine ernsthafte Krankheit eigentlich gar nicht vorlag. Was wäre die Folge? In der Privatwirtschaft drohen in solchen Fällen Abmahnung, Kündigung und nicht selten sogar strafrechtliche Konsequenzen.

Aber bei einem Spitzenpolitiker der SPD? Da wird weggeschaut. Da wird geschwiegen. Da wird vertuscht.

Man fragt sich unweigerlich: Was wäre passiert, wenn es ein AfD-Politiker gewesen wäre? Oder jemand von der Werteunion? Oder ein konservativer Abgeordneter? Die Empörungswelle wäre tsunamiartig durchs Land gerollt. Eilmeldungen, Talkshows, investigative Enthüllungen, Dauerfeuer auf allen Kanälen.

Doch Kevin Kühnert? Wird behandelt wie ein Fußgänger, der im Parkverbot steht.

Es geht nicht nur um den Vorwurf selbst. Selbstverständlich gilt auch für Kühnert die Unschuldsvermutung. Es geht um das, was dieses Schweigen über unsere politische Kultur aussagt. Auf der einen Seite die angeblich Bösen - bei denen jedes noch so kleine Vergehen aufgeblasen wird. Auf der anderen Seite die Guten - denen man alles durchgehen lässt, selbst wenn es nach handfestem Betrug riecht. Und nicht mal kritisch nachfragt.

Was besonders schlimm ist, und was viele völlig unterschätzen: Das Schweigen ist oft lauter als eine Lüge.

Denn es sendet eine klare Botschaft: Regeln gelten nur noch für manche. Moralische Empörung ist zur Waffe geworden und hat nichts mehr mit Moral und Anstand zu tun, so wie wir sie kennen. Wer dazugehört, zu den selbsternannten "Guten", der darf tricksen, schummeln, vertuschen - Hauptsache auf der richtigen Seite. Wer nicht dazugehört, wird schon für eine missverständliche Formulierung medial abgeurteilt.

Man sieht dieselben Mechanismen, wenn Marine Le Pen von der Präsidentschaftswahl in Frankreich ausgeschlossen wird - natürlich ganz legal, natürlich ganz "objektiv". Man sah es bei unzähligen Skandalen hierzulande, die je nach Parteibuch entweder binnen Stunden beerdigt oder wochenlang ausgeschlachtet wurden.

Vielleicht haben wir uns einfach daran gewöhnt.

Daran, dass Skandale heute nicht mehr nach dem Gewicht der Tat beurteilt werden, sondern nach der politischen Gesinnung.


Kommentar: Heutzutage ist das leider unser täglich Brot - so schlimm es auch ist.


Daran, dass Schweigen lauter ist als jede Schlagzeile.

Daran, dass Gerechtigkeit längst zur Gesinnungsfrage geworden ist.

Aber jedes Mal, wenn wir dieses Schweigen durchgehen lassen, stirbt ein kleines Stück Vertrauen. Nicht nur in Medien oder Politik - sondern in die Grundidee, dass Regeln für alle gelten. Und genau deshalb dürfen wir es nicht einfach so hinnehmen.

Darum habe ich diesen Artikel geschrieben. Auch wenn der gesunde Menschenverstand dabei inzwischen auf der Liste der gefährdeten Arten steht.