Irgendwann im Laufe dieses langen Abends lächelt Aviva Schalit. Es ist ein vorsichtiges, ein zweifelndes Lächeln auf den Lippen einer Frau, die seit Langem keine wahre Freude mehr kennt. Denn seit mehr als fünf Jahren wartet Aviva Schalit auf die Rückkehr ihres Sohnes Gilad, der am 25. Juni 2006 während seines Militärdienstes von Hamas-Kämpfern in den Gazastreifen verschleppt wurde und seitdem dort gefangen gehalten wird.

Vor zwei Jahren gab es das letzte Lebenszeichen, ein Video, auf dem ein blasser, aber gesunder Gilad Schalit zu sehen ist.

Seit mehr als fünf Jahren kämpfen die Schalits für die Freilassung ihres Sohnes, erst still im Hintergrund und dann immer lauter. Sie sind in ein Protestzelt vor der Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem gezogen, fast ununterbrochen stehen sie seitdem im Scheinwerferlicht der Medien. Und nun könnte es wirklich so weit sein: Ein Abkommen über einen Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas-Führung sei bereits unterschrieben, meldet der arabische Sender al-Arabija am Dienstagabend um kurz nach sieben. Ein Führer des militärischen Flügels der Hamas habe den Deal bestätigt. Das ist zunächst mal ein Gerücht, wie es in dieser Sache schon so viele gegeben hatte. Noam Schalit, der Vater des entführten Soldaten, sagt, man hoffe, dass es sich um eine ernsthafte Entwicklung handele. Das klingt noch sehr skeptisch. "Wir haben uns schon mal in diesem Film befunden", sagt der Vater. Immer wieder hatte es in den vergangenen Jahren Informationen über einen unmittelbar bevorstehenden Austausch gegeben. Immer wieder wurden die Hoffnungen der Familie geweckt und dann jäh enttäuscht. Was ihm Ministerpräsident Netanjahu bei einem Gespräch am Nachmittag mitgeteilt hat, möchte Noam Schalit nicht sagen.

Die israelischen Fernsehsender haben längst ihr reguläres Programm unterbrochen und bringen Sondersendungen. Die Korrespondenten und Moderatoren wissen noch nicht, dass es eine sehr lange Nacht für sie werden wird. Netanjahu habe das gesamte Kabinett zu einer Sondersitzung einberufen, heißt es. Manchen Ministern sei nicht einmal mitgeteilt worden, was auf der Tagesordnung der Sitzung stehe. Man habe den vereinbarten Gefangenenaustausch bis zu letzten Minute geheim halten wollen. Das ist gelungen: Zwei Sitzungen des inneren Kabinetts von acht Ministern habe es in den vergangenen Tagen gegeben, geben Vertraute des Ministerpräsidenten nun bereitwillig zu. Nichts davon ist an die Öffentlichkeit gelangt. Denn es ist ein ungleicher Tausch nicht ohne Risiken, auf den Israels Regierung sich hier einlässt. Im Gegenzug für Schalit sollen 1027 palästinensische Häftlinge freikommen, darunter mehrere Hundert zu lebenslanger Haft verurteilte Terroristen. Zunächst sollen innerhalb einer Woche 450 männliche Gefangene und 27 Frauen entlassen werden. Daraufhin soll Gilad Schalit über Ägypten an Israel übergeben werden. Innerhalb von zwei Monaten sollen dann 550 weitere Palästinenser entlassen werden.

Einsatz einer letzten Waffe

Auf den ersten Blick scheinen das dieselben Bedingungen zu sein, denen die israelische Regierung bisher nicht zustimmen wollte, doch die Unterschiede liegen im Detail. Beide Seiten haben Zugeständnisse gemacht: Die Israelis stimmten der Entlassung von Palästinensern aus Ost-Jerusalem oder mit israelischer Staatsangehörigkeit zu, die Hamas musste einsehen, dass ein großer Teil ihrer Führungsriege hinter Gittern bleibt. Schließlich macht der Chef des Inlandsgeheimdienstes, Joram Cohen, kein Hehl daraus, dass Israel sich den Einsatz einer letzten Waffe vorbehält: Israel habe sich in dem Abkommen nicht dazu verpflichtet, die entlassenen Palästinenser nicht auszuschalten, sagt er und meint damit wohl gezielte Tötungen.

Es ist längst dunkel geworden in Jerusalem. Die Eltern haben sich zurückgezogen, der Bruder Joel und seine Freundin halten die Stellung. Was ist das Erste, das du mit ihm nach seiner Rückkehr machen möchtest?, fragt eine Journalistin. "Ihn umarmen", antwortet Joel und fügt nach kurzem Zögern hinzu: "Schauen, ob er echt ist." Die Freilassung übersteigt sein Vorstellungsvermögen. Dabei wird die Hoffnung immer konkreter. Der Exilchef der Hamas, Khaled Meschaal, hat im Fernsehen die Details bestätigt. Meschaal erklärt die palästinensischen Gefangenen zu Helden, die sich bald wieder beim nationalen Aufstand beteiligen könnten. Auch der Präsident der Palästinenserbehörde in Ramallah, Mahmud Abbas, gibt bekannt, er sei froh über den Austausch und hoffe auf die Freilassung aller Gefangenen. In Wahrheit wird sich Abbas' Freude allerdings in Grenzen halten: Ein Erfolg der Hamas schwächt automatisch seine moderate Palästinenserführung.

Gegen 23 Uhr beginnen einige junge Leute Freudentänze neben dem Protestzelt. Auch in Gaza wird gefeiert: Die Familien der palästinensischen Häftlinge feiern, Zehntausende sind auf den Straßen. Es wird in die Luft geschossen, die Hamas spendiert ein Feuerwerk. Eher still hingegen ist der Protest der Angehörigen von Terroropfern, die gegen Mitternacht unweit des Zeltes in Jerusalem Stellung beziehen. Sie warnen vor weiteren Terroranschlägen: 180 Israelis seien von Terroristen ermordet worden, die zuvor im Rahmen eines Gefangenenaustausches freigekommen seien. "Unser Protest ist kein angenehmer Protest", sagt einer von ihnen. "Niemand will, dass Gilad Schalit ewig in Gefangenschaft bleibt. Aber der Preis ist zu hoch. Wir provozieren so neue Anschläge und weitere Entführungen."