Dank eines spezielles Hirnareals erkennt der Mensch Gesichter im Bruchteil einer Sekunde: Aus evolutionärer Sicht birgt das einen klaren Überlebensvorteil.
Angelina Jolie, verkehrt herum
© PALiegt ein Portraitfoto auf dem Kopf, brauchen wir länger um es als Antlitz zu erkennen - oder haben Sie Angelina Jolie sofort erkannt?

Weniger als eine halbe Sekunde braucht unser Gehirn, um ein bekanntes Gesicht zu erkennen und es von vielen anderen bekannten und unbekannten Gesichtern zu unterscheiden. Das funktioniert selbst dann, wenn seit dem letzten Zusammentreffen Jahre vergangen sind und eine neue Brille oder eine andere Frisur das Aussehen verändert hat. Gesichter schnell zu erkennen und gut in ihnen lesen zu können, das ist eine Spezialität des Menschen.

Aus evolutionärer Sicht birgt es einen klaren Überlebensvorteil. Wahrscheinlich schauen Neugeborene deshalb bereits in den ersten Minuten ihres Lebens lieber Figuren an, die in ihrem Aufbau Gesichtern ähneln, als andere Figuren. Sie sehen zwar noch verschwommen und können keine Feinheiten erkennen - aber jeder Kreis, der mehr Symbole in der oberen Hälfte als in der unteren Hälfte aufweist, ist für die Säuglinge interessant.

Menschen erkennen Gesichter besser als alles andere

Der amerikanische Psychologe Robert Yin fand bereits in den 60er-Jahren heraus, dass wir als Erwachsene menschliche Gesichter besser erkennen als alle anderen visuellen Reize. Er entdeckte auch den sogenannten Inversionseffekt: Zwar erkennen alle Menschen Gegenstände auch dann, wenn sie auf dem Kopf stehend präsentiert werden, doch bei Gesichtern fällt das uns deutlich schwerer als bei anderen Gegenständen.

Der Psychologe schlussfolgerte, dass Bilder grundsätzlich entweder als Ganzes verarbeitet werden oder als einzelne geometrische Elemente. Wenn auf dem Kopf stehende Gesichter schwieriger erkannt werden, könnte das darauf hinweisen, dass das Gehirn Gesichter bevorzugt als Ganzes verarbeit - im Gegensatz zu anderen Gegenständen.

Bei auf dem Kopf stehenden Gesichtern muss das Gehirn dann zum mühevolleren Erkennen der einzelnen Teile übergehen und braucht dafür länger. Im Gehirn müsste es dann Areale geben, die auf die Gesichtererkennung spezialisiert sind.

Seither ist unter den Wissenschaftlern eine Debatte ausgebrochen, und Studie um Studie wird herangezogen, um zu klären, ob Gesichter nun mit ganz spezifischen Gehirnprozessen verarbeitet werden oder doch mit den gleichen wie alle anderen Objekte.

Spezielles Hirnareal für die Identifizierung endeckt

Mittlerweile zeigen bildgebende Verfahren den Neuropsychologen, wie das Gehirn arbeitet: In Studien mit Affen konnten sie messen, dass bestimmte Bündel von Nervenzellen im Gehirn stärker aktiv waren, wenn die Tiere andere Affengesichter zu sehen bekamen.

Es gab sogar Nervenzellpaare, die besonders stark auf Frontalansichten, und andere, die stärker auf Profilbilder anderer Affen reagierten. Die Aktivität sank, wenn die Affen andere Bilder sahen, die keine Affengesichter zeigten.

Nancy Kanwisher vom Massachusetts Institute of Technology konnte als Erste zeigen, dass sich im Gehirn des Menschen ein spezialisiertes Gebiet für die Gesichtserkennung verbirgt - der sogenannte Gyrus fusiformis. Das ist eine Struktur ganz am unteren hinteren Ende des Kopfes. Der Gyrus fusiformis reagiert aber nur bei menschlichen Gesichtern - für Bilder von Tieren hat er nichts übrig - sie werden vom Gehirn wie Bilder von Gegenständen verarbeitet.

Dazu passt noch ein anderer Befund: Babys können nämlich unterschiedliche Affengesichter problemlos voneinander unterscheiden - doch sie verlieren diese Fähigkeit schnell, wenn sie nicht gebraucht wird, wie Charles Nelson von der Harvard University herausfand. Er gab Eltern Bücher mit Affengesichtern mit nach Hause, die die Eltern ihren Kindern im Alter von drei Monaten täglich zeigen sollten.

Babys, die dieses Training bekamen, konnten noch sehr viel später Affengesichter gut voneinander unterscheiden. Kinder ohne Training dagegen verloren diese Fähigkeit mit rund neun Monaten. Es scheint also im ersten Lebensjahr eine kritische Phase zu geben, in der Menschen lernen, welche Art von Gesichtern besonders wichtig ist. Wie Nelson später feststellte, konnten nicht einmal Tierpfleger in Affengehegen neue Affengesichter so gut unterscheiden wie die trainierten Säuglinge.

Ähnlich wie das Erlernen von Sprache

Offenbar entwickelt sich die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen und zu unterscheiden, ähnlich wie das Erlernen von Sprache. Denn im Alter von sechs bis zehn Monaten verbessert sich die Fähigkeit eines Babys, zwischen Klängen der eigenen Sprache zu unterscheiden.

Gleichzeitig können sie Unterschiede zwischen den Lauten fremder Sprachen immer weniger erkennen. Erst kürzlich haben Forscher im Gehirn einen Zusammenhang zwischen dem Erkennen von Stimmen und von Gesichtern entdeckt.

Eine direkte Nervenverbindung sorgt für eine schnelle Abstimmung - deshalb werden beide Areale oft gemeinsam aktiv. Taucht eine bekannte Stimme auf, wird der Gyrus fusiformis mit aktiviert, und die Person wird zuverlässig erkannt.

Ein anderer Effekt hat der Forschung lange Rätsel aufgegeben. Mehrere Studien ergaben, dass sich Angehörige einer gleichen Gruppe gegenseitig besser erkennen und unterscheiden können als Mitglieder einer anderen Gruppe. Michael Bernstein von der Miami University etwa zeigte, dass Europäer größere Schwierigkeiten hatten, Asiaten voneinander zu unterscheiden als andere europäische Testpersonen.

Umgekehrt hatten auch die Asiaten mit dem Unterscheiden europäischer Gesichter Probleme. Liegt das daran, dass Europäer an die Proportionen von europäischen Gesichtern gewöhnter sind? Bernstein bewies, dass dies nicht so ist.

Gefühl der Gruppenzugehörigkeit wirkt sich aus

Denn der Effekt kommt und geht mit der Gruppenzugehörigkeit: Teilte er zu unterscheidende Gesichter künstlich in Mitglieder der eigenen und einer fremde Universität ein, differenzierten die studentischen Probanden besser die vermeintlichen Mitglieder ihrer eigenen Uni. Bernstein zufolge spielen im Alltagsleben wahrscheinlich beide Effekte, Gruppenzugehörigkeit und Gewöhnung, eine Rolle bei der Gesichtererkennung.

Die grundlegende Begabung dafür ist zum Teil auch vererbt. Kürzlich zeigte ein amerikanisch-chinesisches Forscherteam, dass rund 35 Prozent der individuellen Unterschiede in der Gesichtererkennung auf genetische Faktoren zurückgehen.

Ähnliches zeigen auch Befunde bei Autisten: Diese brauchen deutlich länger, um ein Gesicht zu erkennen, und zeigen besonders wenig Aktivität im Gyrus fusiformis. Aber auch die nicht-autistischen Eltern von mehreren autistischen Kindern zeigen eine weniger starke Reaktion auf Gesichter im Gehirn.

Und auch Menschen mit Prosopagnosie, einer angeborenen oder durch Kopfverletzungen verursachten Störung, können bekannte Gesichter entweder gar nicht als Gesicht erkennen oder haben Schwierigkeiten, das Gesicht einer Person zuzuordnen.

Aber auch wenn fast jeder das Phänomen kennt, vor jemandem zu stehen, den man plötzlich nicht mehr zuordnen kann - bei den meisten funktioniert die Gesichtererkennung zum Glück zuverlässig. Ein Leben lang.