Hirnforscher und Psychologen sind erst seit wenigen Jahren den Mechanismen des Mitfühlens und damit den Grundlagen menschlichen Sozialverhaltens auf der Spur

Wiener Wissenschafter loten nun aus, was sich in unseren Köpfen abspielt, wenn wir uns altruistisch verhalten.

"Ist da jemand?" lautet einer der medial verpackten Spendenaufrufe, die besonders in der Vorweihnachtszeit auf unser Mitgefühl setzen - und darauf, dass wir es in bare Münze verwandeln. Doch was bewirken Bilder von leidenden Menschen wirklich in unseren Köpfen? Reicht empathisches Mitfühlen aus, um jemand anderem zu helfen? Also: Handelt da auch jemand?

Die Fähigkeit zu Selbstlosigkeit scheint tatsächlich mit dem Vermögen, sich in andere hineinzufühlen, in Verbindung zu stehen. Bei einer im August 2011 im Fachjournal PloS One veröffentlichten Studie zeigte sich, dass Versuchspersonen, die besonders empathisch mit dem Schmerz eines anderen mitfühlten, eher bereit waren, einer Testperson Schmerzstimulationen abzunehmen.

"In dieser Untersuchung wurde vorerst nur die emotionale Erregung anhand der Hautleitfähigkeit der Hände als Indikator für Empathie verwendet", räumt Claus Lamm, einer der Studienautoren, ein. "Im nächsten Schritt werden wir die Gehirnaktivitäten analysieren." Lamm leitet seit 2010 die Abteilung für soziale, affektive und kognitive Neurowissenschaften (SCAN Unit) an der Fakultät für Psychologie der Uni Wien. Dort ist Lamm, der sich zuvor unter anderem an den Universitäten Zürich und Chicago in die Empathieforschung vertieft hat, den Grundlagen des menschlichen Sozialverhaltens auf der Spur.

"Wir wollen die Bedingungen identifizieren, unter denen man sich altruistisch verhält. Empathie, also der Mechanismus, die Gefühlslage eines anderen möglichst akkurat nachzuempfinden, ist dabei nur ein Faktor", sagt der Psychologe und Neurowissenschafter. In den Labors des Institutsgebäudes im ersten Wiener Bezirk führt der gebürtige Vorarlberger vor, mit welchen Mitteln er in die Köpfe der Probanden schaut. Neben EEG (Elektroenzephalografie) zur Hirnstrommessung kommt ein Gerät zur "transkraniellen Magnetstimulation" zum Einsatz.

Wirbelnde Neuronen

Dabei wird eine Magnetspule, die per Computersteuerung mit einem Magnetresonanz-Bild des Kopfes abgestimmt ist, auf eine bestimmte Gehirnregion gerichtet und so ein Magnetfeld erzeugt. Dieses wirbelt die Neuronen durcheinander und stört die Kommunikationswege im Gehirn. Wenn der Versuchsperson dann Bilder präsentiert und Aufgaben gestellt werden, lässt sich feststellen, ob eine bestimmte Hirnfunktion, etwa die Schmerzempfindung, speziell in der ausgeschalteten Hirnregion angesiedelt ist.

Mit dieser Methode können Ergebnisse aus der funktionellen Magnetresonanztomografie, die lediglich Korrelationen zwischen Verhalten und Gehirnaktivität misst, verfeinert werden und kausale Rückschlüsse über die Verarbeitungsmechanismen von Emotionen im Gehirn gezogen werden.

Lamm gehört zu einer jungen Forschergeneration, die das erst vor wenigen Jahren entstandene Gebiet der sozialen Neurowissenschaften vorantreibt. "Man weiß heute viel mehr als noch vor fünf, sechs Jahren", meint er. 2004 hat seine ehemalige Züricher Kollegin Tania Singer, die heute am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig forscht, erstmals nachgewiesen, dass unser Gehirn mit den Gefühlen der anderen mitschwingt. Frauen, deren Männer einen Schmerzreiz erhielten, zeigten Aktivität in denselben Gehirnregionen, wie wenn ihnen der Schmerz selbst zugefügt wurde.

Die bahnbrechende Studie, die in Science publiziert wurde, war eine Fortführung des Konzepts der Spiegelneuronen, das Neurobiologen rund um Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma in den 1990er-Jahren bei Makaken entdeckt hatten. Sie beobachteten, dass bestimmte Nervenzellen nicht nur feuerten, wenn ein Affe eine Bewegung selbst ausführte, sondern auch dann, wenn er bloß dabei zusah, wie die Bewegung jemand anderer machte.

Mittlerweile weiß man, dass Empathie über den Prozess des automatischen Kopierens hinausgeht und durchaus auch aktiv gesteuert werden kann. "Die Herausforderung besteht darin, zwischen den eigenen und den fremden Emotionen zu unterscheiden", betont Claus Lamm. Ob ein Zeuge eines Autounfalls Hilfe leistet oder sich aus einer Stressreaktion heraus abwendet, hängt davon ab, inwieweit die Person die negativen Eindrücke mit seinen eigenen Gefühlen vermischt.

Im Gehirn ist der rechte temporoparietale Übergangskortex für diese Art der Abgrenzung zwischen Selbst und Anderem zuständig. Ist er aktiv, gelingt die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Empfindungen. "Dann bleibt die Person in der Regel handlungsfähig", erklärt Lamm. Ein konstruktiver Umgang mit Emotionen, ohne die Empathie zu verlieren, kann trainiert werden: Schließlich darf sich auch ein Arzt oder Psychotherapeut nicht von seinem Mitgefühl überwältigen lassen.

Ob Menschen altruistisch handeln, hängt stark von der individuellen Persönlichkeit und der Situation ab. Denn allein Empathie führt noch nicht zu prosozialem Verhalten, wie Claus Lamm erklärt: "Ein Soziopath kann sich auch in die Lage eines anderen versetzen, nutzt dies aber zu seinen eigenen Zwecken."


Kommentar: In dem Buch von Robert Hare und Paul Babiak, Menschenschinder oder Manager, wird folgendes unterschieden:
Psychopathie:
ist eine Persönlichkeitsstörung, die sich durch die Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensformen beschreiben lässt [...]. Psychopathen haben kein Gewissen und sind unfähig zu Empathie, Schuldgefühlen und Loyalität gegenüber anderen.

Soziopathie:
ist kein offiziell definierter psychiatrischer Zustand. Der Begriff bezieht sich auf Einstellungs- und Verhaltensmuster, die von der Gesellschaft allgemein als antisozial oder kriminell betrachtet werden, in der [...] sozialen Umgebung, in der sie entstanden, jedoch als normal oder notwendig gelten. Soziopathen können ein gut entwickeltes Gewissen und eine normale Fähigkeit zu Empathie, Schuldgefühlen und Loyalität haben, doch ihr empfinden von Recht und Unrecht beruht auf den Normen und Erwartungen ihrer [Umgebung].

Antisoziale Persönlichkeitsstörung (antisocial personality disorder, APD):
[es] handelt sich um eine weit gefasste diagnostische Kategorie nach der vierten Auflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychiatrischer Störungen (DSM-IV) der American Psychiatric Association. Bei ihrer Definition spielen antisoziale und kriminelle Verhaltensformen eine große Rolle; in dieser Hinsicht ähnelt APD der Soziopathie. Manche Menschen sind Psychopathen, viele andere aber nicht.

Der Unterschied zwischen Psychopathie und einer antisozialen Persönlichkeitsstörung besteht darin, dass zur Psychopathie Persönlichkeitsmerkmale wie die Unfähigkeit zur Empathie, ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit und fehlende Gefühlstiefe gehören, die für die Diagnose von APD nicht erforderlich sind.

Ein wesentlicher Faktor ist, wie gut man sein Gegenüber kennt bzw. wie viele Gemeinsamkeiten vorhanden sind. So waren Fußballfans eher bereit, einem Mitglied des eigenen Clubs Schmerzstöße abzunehmen, als einem Fan des gegnerischen Klubs, wie Tania Singer und Grit Hein von der Universität Zürich 2010 zeigten. Während bei den altruistischen Probanden Aktivität in der für Empathie verantwortlichen vorderen Inselrinde verzeichnet wurde, feuerte bei denjenigen, die den anderen leiden ließen, das Belohnungszentrum.

Welche Mechanismen im Gehirn führen von Empathie über Mitgefühl bis hin zu Altruismus? Wann kooperieren Menschen, wann konkurrieren sie? Claus Lamm und sein Team von der SCAN-Unit beschränken sich dabei nicht auf die Hirnforschung, sondern verbinden neurowissenschaftliche Methoden mit Verhaltensforschung und Genetik.

Menschen, Hunde, Opiate

Beim aktuellen Cognitive Sciences Call des Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF) konnte Lamm gleich zweimal punkten. In einem mit dem Kognitionsbiologen Ludwig Huber geleiteten Projekt führen die Forscher ähnliche Experimente mit Hunden und Menschen durch, um die Zusammenhänge von Imitation, Empathie und helfendem Verhalten auszuloten.

In einem zweiten Projekt, das Lamm gemeinsam mit Christian Windischberger von der Med-Uni Wien durchführt, will er herausfinden, welche Rolle körpereigene Opiate bei empathisch empfundenem Schmerz spielen. Eine Ausschüttung dieser Opiate bewirkt gewöhnlich, dass reale Schmerzen gedämpft werden. "Beim Mitfühlen von Schmerz ist eine Gehirnregion aktiv, in der sich besonders viele Rezeptoren für Opiate befinden", sagt Lamm. "Mit Hilfe von DNA-Proben analysieren wir die genetische Ausprägung für die Anzahl dieser Rezeptoren, und ob daraus unterschiedliche empathische Reaktionen resultieren."

Damit würde sich ein weiteres Puzzlestück in ein überaus komplexes Bild fügen. Lamms Ziel: "Ein Modell, in dem wir die Faktoren für altruistisches Handeln quantifizieren können."

Der Standard