Cecilia Malmström
© AFPCecilia Malmström
Die EU-Innenminister wollen den nationalen Regierungen das letzte Wort bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen lassen. Das EU-Parlament fühlt sich ausgebootet und will vor Gericht ziehen.

"Eine Schande" und "gefährliche Wende", "zutiefst anti-europäisch" und "beschämend" obendrein: Mit drastischen Worten haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments den umstrittenen Schengen-Kompromiss der EU-Innenminister gegeißelt.

Alle großen Fraktionen rügten den Entwurf als Steilvorlage für populistische und nationalistische Alleingänge der Hauptstädte. Dass den Volksvertretern das Mitspracherecht bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen verwehrt bleiben soll, wollen sie nicht akzeptieren - und deshalb vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ziehen.

Über die Organklage vor dem höchsten EU-Gericht seien sich die Parteien von links bis rechts weitgehend einig, sagte der Vize-Chef der konservativen Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU), am Rande der Plenartagung in Straßburg. Parlamentspräsident Martin Schulz werde ihre Beschwerden auf dem EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ende Juni vorbringen. Falls dort kein Entgegenkommen signalisiert werde, sei im Juli mit weiteren Konsequenzen zu rechnen.

"Wo sind denn die Millionen von Flüchtlingen?"

Die EU-Innenminister hatten sich vergangenen Donnerstag darauf geeinigt, den nationalen Regierungen auch weiterhin das letzte Wort bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen vorzubehalten. Die EU-Kommission wollte derartige Entscheidungen stärker vergemeinschaften und auf europäischer Ebene treffen. Sie wäre dem Entwurf nach aber weitgehend ausgebootet, ebenso wie das Parlament.

Das Argument der Innenminister, Europas Sicherheit werde durch illegale Einwanderung an den löchrigen Außengrenzen bedroht, wiesen die Sozialdemokraten vehement zurück. "Wo sind denn die Millionen von Flüchtlingen, wo Sie reagieren müssten?", rief Fraktionschef Hannes Swoboda dem dänischen Justizminister Morten Bodskov entgegen, dessen Land momentan dem Rat der Mitgliedstaaten vorsteht. "Sie machen ein Tor auf für den Rechtspopulismus in Europa!"

Auch von den Grünen wurde der Däne stellvertretend für die europäischen Regierungen scharf kritisiert. "Sie legen die Axt an eine der größten Errungenschaften der EU, die Reisefreiheit, und das ist beschämend", empörte sich die Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms. Der Chef der Liberalen im Parlament, Guy Verhofstadt, bezeichnete es als "Schande, dass wir heute überhaupt diese Debatte führen müssen".

Innenkommissarin ist enttäuscht

Rückendeckung bekamen die Abgeordneten von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Sie sei "sehr enttäuscht" vom Alleingang der Mitgliedstaaten, kritisierte die Schwedin, weil dieser grenzüberschreitende Geschäfte, Arbeitsplätze und das Wirtschaftswachstum gefährde. Zwar seien die 26 Schengen-Länder natürlich "die Herren ihrer eigenen Grenzen", die Europäer aber hätten ihre Reisefreiheit zu schätzen gelernt - und dürften diese nicht aus populistischen und innenpolitischem Motiven einbüßen.

Malmströms ursprünglicher Vorschlag war von den Innenministern abgeschmettert worden, deren Standpunkt blieb wie gehabt: Sieht ein Land seine "öffentliche Ordnung und innere Sicherheit" ernsthaft gefährdet, muss es die Kommission und übrigen EU-Staaten wie bisher bloß unverbindlich konsultieren, bevor es seine Grenzen dichtmacht.

Eingeführt werden soll zudem ein neuer "Notfallmechanismus" für den Fall, dass ein EU-Staat den Schutz seiner Schengen-Außengrenzen "schwerwiegend und dauerhaft" vernachlässigt und damit den gesamten Schengenraum gefährdet. Vor allem hier sieht sich das Parlament nicht ausreichend am Prüfverfahren beteiligt.

Den Anlass zum Schengen-Streit lieferte der Arabische Frühling vor einem Jahr, in dessen Folge Hunderttausend Flüchtlinge aus Nordafrika auf der Mittelmeerinsel Lampedusa strandeten. Während viele von dort Richtung Westen zogen, drängten weiter östlich illegale Einwanderer über die löchrige Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Rund 55.000 Menschen wurden vergangenes Jahr beim Versuch aufgegriffen, über diesen Brennpunkt illegal in den Schengen-Raum ohne Passkontrollen zu gelangen.

dapd