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© picture alliance / dpaMenschen fühlen sich zum Wasser hingezogen.

"Uferhypothese" zu aufrechtem Gang


Warum geht der Mensch auf zwei Beinen? Schon lange ringt die Wissenschaft um diese Frage. Lange war die sogenannte "Savannenhypothese" eine populäre Erklärung: Unsere Vorfahren lebten in Wäldern auf Bäumen, doch, so die These, durch klimatische Bedingungen wurde der Lebensraum in baumlose Savannen verlegt - und zwang die Primaten, sich unter anderem für die Nahrungsaufnahme aufzurichten. Zahlreiche Fossilfunde widerlegen diese These jedoch, so dass sich weite Teile der Wissenschaft von ihr distanzieren.

Viele Forscher sind inzwischen davon überzeugt, dass sich der aufrechte Gang in Wäldern entwickelt hat. Paläontologen belegen dies mit Fossilien, Primatenforscher mit Beobachtungen von Affen, die sich auch in Bäumen zum Teil auf zwei Beinen fortbewegen. Der Verhaltensforscher und Humanbiologe Carsten Niemitz hat jedoch seine eigene Theorie. Die sogenannte "Uferhypothese" bekam anfänglich noch Gegenwind, gewinnt aber unter Wissenschaftlern zunehmend an Popularität. Im Interview mit n-tv.de erklärt der Wissenschaftler seine Theorie und erzählt, was ihm die Augen geöffnet hat.

n-tv.de: Herr Niemitz, aus Sicht eines Laien klingt Ihre Hypothese, der Mensch habe den aufrechten Gang im und am Wasser gelernt, doch sehr weit hergeholt. Wie sind Sie darauf gekommen?

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© ReutersWarum haben unsere Vorfahren das Baumleben aufgegeben?
Carsten Niemitz: Ich habe viel Feldforschungsarbeit betrieben. Immer wieder begegnete mir die Ansicht, unsere Vorfahren seien irgendwann von den Bäumen gestiegen. Doch das stimmt nicht. Alle unsere Vorfahren werden als "semiterrestrisch" bezeichnet, das heißt, sie haben immer schon ihren Lebensraum auch auf dem Boden gehabt. Die Frage für mich war: Warum haben wir das Baumleben komplett aufgegeben? Wo und wie ist das passiert? Irgendwann bin ich auf einer Forschungsreise von Mombasa in dieSerengeti geflogen - und da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Mitten in der ostafrikanischen Savanne gibt es grüne Adern und Wasserläufe. Wenn ich ein Affe wäre, der weder Gras noch Antilopen frisst, würde ich doch da bleiben, wo ich reichhaltig Nahrung finde - am Wasser!

Diesem Anfangsverdacht sind Sie dann nachgegangen.

Ja. Und es stellte sich heraus: Vor fünf bis sieben Millionen Jahren, also zu der Zeit, in der sich der aufrechte Gang entwickelte, war es in Afrika viel nasser, als man lange angenommen hat. Das Geoforschungsinstitut in Potsdam hat herausgefunden, dass an Seen und Teichen tausende Kilometer von Ufern vorhanden waren. Zugleich hat sich das Klima so verschoben, dass zwar Wasser da war, aber auch die ersten Savanneninseln entstanden.

Unsere Vorfahren haben sich dann am Wasser angesiedelt?

Am Ufer kann man Früchte pflücken, Fische aus Tümpeln herauslöffeln - man findet mehr als genug Nahrung, ohne viel investieren zu müssen. Übrigens: Diese Nahrung ist auch reich an Omega-3 Fettsäuren. Diese sind für die Entwicklung des menschlichen Gehirns wichtig, die dann folgte. Auch unser Sozialleben konnte sich durch die reichhaltige Nahrung durch diese Zeitersparnis stärker entwickeln.

Das klingt alles sehr plausibel - aber noch gehen wir auf vier Beinen.

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© PLoS Biology Vol. 3/11/2005, e385 unter cc-by-saEin Gorillaweibchen watet durchs Wasser.
In der Geschichte der Evolution war der aufrechte Gang eine enorme Schwelle. Die Vierfüßer bewegten sich perfekt auf ihren vier Füßen. Sie waren schnell und konnten gut galoppieren. Und trotzdem: irgendwann sind sie aufgestanden und auf zwei Beinen gegangen. Ich habe mir in der Freilandforschung unzählige Primaten angeschaut. Man sieht, dass sie sich hin und wieder auf zwei Beine stellen, etwa um an Futter zu kommen. Aber sie gehen nicht. Die Frage ist: In welcher Situation laufen denn Affen auf zwei Beinen? Die Antwort lautet: im Wasser! Nirgendwo stellen sie sich hin und gehen dann los - außer im Wasser. Denn da müssen sie sich aufrichten, das geht gar nicht anders. Und da durch die reichhaltige Nahrung der Anreiz gegeben war, dort zu bleiben, sind auf Dauer natürlich auch längere Beine nützlich, denn die sind beim Waten von Vorteil. Durch die längeren Beine aber wird das vierfüßige Gehen immer schwieriger ...


... sodass sich der aufrechte Gang irgendwann auch an Land durchgesetzt hat.


Genau. Zahlreiche Untersuchungen bestätigen meine Theorie, dass wir im Wasser das aufrechte Gehen gelernt haben. Die Hautisolation etwa: Der Mensch ist der einzige Primat, der mit der oberen Körperhälfte Wärme austauscht. Wir schwitzen auf dem Brustbein, auf dem Rücken, im Gesicht, an den Armen, aber nicht an den Beinen. Wir haben thermografische Untersuchungen bei Affen durchgeführt - wenn die laufen, bekommen sie warme Oberschenkel. Beim Mensch ist es so, dass der Oberschenkel trotz Muskelarbeit außen kalt bleibt, da die Wärme über den Blutkreislauf abgeführt wird und hier kein Wärmeaustausch stattfindet. Es gibt keinen anderen evolutionären Grund, den man sich denken könnte, außer dass es nötig war, die untere Körperhälfte zu isolieren. Weil sie sich häufig im Wasser befand.

Klingt einleuchtend. Gibt es weitere Hinweise?

Natürlich. Die Theorie ist nicht nur eine Idee, sondern das "Gedankengebäude" wird inzwischen durch sehr unterschiedliche Untersuchungen belegt. Da wäre zum Beispiel die Evolution menschlicher Parasiten. Es gibt Parasiten, die man sich im Wasser holt. Darunter sind wiederum welche, denen egal ist, ob der Wirt ein Säugetier ist oder nicht. Dann wiederum gibt es welche, die ausschließlich Menschen befallen. Und alle - wirklich ausnahmslos alle - dieser menschlichen Parasiten, die eine Larvenphase im Wasser haben, in der sich der Mensch infizieren kann, stammen aus Afrika. Dort, wo die Wiege der Menschheit steht.

Prof. Dr. Carsten Niemitz leitete bis 2010 das Institut für Biologie der FU Berlin.

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© UnbekanntProf. Dr. Carsten Niemitz leitete bis 2010 das Institut für Biologie der FU Berlin.
Sie sprechen auch davon, dass sich der Mensch am Wasser besonders wohlfühlt - und werten das als Indiz.

Der Mensch hat eine Wassersehnsucht, die sehr tief verwurzelt ist. Denken sie nur an das beruhigende Rieseln des Wassers oder daran, dass sehr viele an irgendeinem Ufer Urlaub machen. Wir haben uns Versicherungsreklamen angeschaut. Als Zeichen des Wohlfühlens werden hier Küsten gezeigt. Immobilien am Wasser kosten doppelt so viel wie 50 Meter landeinwärts. Wir haben auch die Nutzung von Parks untersucht: Dort, wo es Wasseranlagen im Park gab, picknicken die Menschen bis zu drei Mal länger als dort, wo es keine Wasseranlagen gibt. Es zieht die Menschen in allen Kulturen zum Wasser.

Gibt es denn neben diesen Untersuchungen auch Fossilien, die die "Uferhypothese" belegen?

Ausnahmslos alle Fossilien, die unsere Vorfahren sein können, werden zum Beispiel zusammen mit Schildkröten oder Flusspferden gefunden. Also immer in einem Wasserkontext. Ganz anders übrigens als andere Primaten: Diese findet man zum Beispiel gemeinsam mit Antilopen oder Schweinen. Auch paläontologisch ist also belegt: Unsere Vorfahren waren Uferbewohner.

Es scheint ja alles für ihre Uferhypothese zu sprechen. Bereits im Jahr 2004 haben Sie die Theorie zum ersten Mal in Ihrem Buch "Das Geheimnis des aufrechten Gangs" geäußert. Wieso ist sie noch nicht Konsens?


Es hat schon bei der Savannentheorie lange gedauert, bis die Forschung erkannt hat, dass sie nicht stimmen kann. Sie war sehr tief verwurzelt und entsprechend schwer abzulösen. Ich habe in den letzten vier Jahren überhaupt keinen Gegenwind mehr bekommen - im Gegenteil. Einige amerikanische Forscher kommen jetzt und sagen: "Das haben wir doch eigentlich schon immer gewusst." Mir scheint es also nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die Uferhypothese allgemein anerkannt wird.