Dieser Skandal überfordert das britische Königreich: Ein Politiker soll Männer sexuell belästigt haben. Sogar der Boulevardpresse fällt dazu nichts mehr ein.
Nigel Evans
© APNigel Evans Anfang März bei der Ankunft vor Gericht
Lange haben die Schwulen darauf warten müssen, nicht mehr für ihr Liebesleben strafverfolgt zu werden. In Großbritannien stehen nun einige wieder vor Gericht - wegen sexueller Belästigung von Männern. Einer von ihnen ist Nigel Evans, ein bekannter britischer Politiker. Er gehe durch die „absolute Hölle“, sagte er am Dienstag im Gerichtssaal von Preston. Und auch die Öffentlichkeit, die in diesem Prominentenprozess mit den Untiefen gleichgeschlechtlicher Beziehungen vertraut gemacht wird, wirkt seltsam klamm.

Evans, der im vergangenen Herbst vom Amt des stellvertretenden Parlamentspräsidenten zurückgetreten war, wird die sexuelle Drangsalierung mehrerer junger Männer vorgeworfen, die in den vergangenen Jahren in seinem beruflichen Umfeld aufgetaucht waren. Auf der Anklageliste vermerkt sind: zwei Fälle von unsittlicher Annäherung, fünf Fälle von sexueller Tätlichkeit (und ein versuchter) sowie ein Fall von Vergewaltigung. Evans streitet die Vorwürfe ab und kann sich entweder nicht erinnern oder beruft sich auf „aufmunternde Signale“, die er empfangen haben will. Einem der Männer, die gegen ihn aussagen, hält er eine „orchestrierte“ Rufschädigung vor.

Die Hand in der Unterhose

Staatsanwalt Mark Heywood gibt sich Mühe, den Fall wie jeden anderen zu behandeln. Er stellt die gleichen scharfen Fragen, die er wohl auch an weniger prominente Angeklagte richten würde oder an solche, die sich am „schwächeren Geschlecht“ vergangen haben: „Die Wahrheit ist, dass Sie in den vergangenen zehn Jahren immer eine lockere Hand hatten, wenn sie betrunken waren und sich dann Leuten zugewandt haben, die Ihnen nicht zugewandt waren!“ Evans antwortete: „Nein“. Heywood setzte nach: „Das ist mit der Zeit immer schlimmer geworden - wenn ein besonders junger und folgsamer Mann in Ihrem Haus war, haben sie das zugunsten Ihrer sexuellen Begierden ausgenutzt!“ - „Nein, das habe ich nicht“, sagte Evans.

Der erste Fall, der aktenkundig wurde, liegt mehr als zehn Jahre zurück. Damals soll sich Evans bei einem Besäufnis am Rande eines Tory-Parteitages mehreren jungen Männern aufdringlich genähert haben. In den Jahren danach kam es angeblich zu weiteren Grabschereien und ungewollten Küssen in Nischen des Westminster-Palastes, bis schließlich 2009 ein junger Mann, der Evans Hand in seiner Unterhose spürte, zu reden begann.

Beginn eines „Schweigekartells“

Der junge Mann weihte einen befreundeten Abgeordneten ein, der wiederum den damaligen Fraktionschef der Konservativen, Patrick McLoughlin, verständigte. Mc Loughlin, heute Verkehrsminister unter Premierminister David Cameron, hätte nach Meinung der Staatsanwaltschaft unverzüglich die Polizei unterrichten müssen, zog es aber vor, mit Evans unter vier Augen zu sprechen. Damit weitete sich der Fall zu einer politischen Affäre aus.

Denn für einige Jahre entstand, was nun von manchen als „Schweigekartell“ bezeichnet wird. Evans, der die sexuelle Annäherung im Gespräch mit Mc Loughlin nicht bestritt, wurde lediglich empfohlen, sich bei dem jungen Berater zu entschuldigen, den Alkoholkonsum zu senken und demnächst die Öffentlichkeit über seine sexuellen Präferenzen ins Bild zu setzen. Bald wird Mc Loughlin dem Gericht erklären müssen, ob seine von vielen als „mild“ betrachtete Reaktion dem anstehenden Unterhauswahlkampf geschuldet war, den er nicht durch einen Skandal dieser Art belasten wollte. Evans selbst wartete mit dem „outing“, bis die Wahlen vorüber waren (und er sich in seiner neuen Position befand).

„Unglaublich flirtiv“

Der Rat Mc Loughlins scheint jedenfalls nicht gefruchtet zu haben, denn im vergangenen Jahr kam es zu jenem Moment, der nun als Vergewaltigung verhandelt wird. Das Opfer, 21 Jahre alt, hatte sich in Unterwäsche zu Evans ins Bett gelegt, wollte aber laut eigener Angaben keinen körperlichen Kontakt. Evans soll schließlich seinen Schlaf ausgenutzt haben, teilte der junge Mann später einer Abgeordneten mit. Die schaltete Parlamentspräsident John Bercow ein, der wiederum die Polizei verständigte. Kurz darauf wurde Evans festgenommen.

Der Sex mit dem jungen Mann sei „konsensual“ gewesen, „vom Anfang bis zum Ende“, versicherte Evans in dieser Woche. Die Prozessbeobachter lernten sogar, dass er ein Kondom benutzt hat. Auch bei den anderen Männern, die sich bis auf zwei Ausnahmen als schwul oder bisexuell bezeichnet haben, sei „gegenseitige Anziehungskraft“ im Spiel gewesen, sagte der 56 Jahre alte Evans. Einige seien „unglaublich flirtiv“ gewesen. Heywood hielt dagegen, dass keiner der jungen Männer ein sexuelles Interesse an ihm gehabt habe. „Herr Heywood, Sie hören mir nicht zu“, widersprach Evans.

Die Zeitungen verfolgen den Prozess mit nüchternen Berichten, schenken ihm aber weniger Aufmerksamkeit als den traditionellen Sex-Skandalen, in die Prominente verwickelt sind. Vor allem die Kommentatoren halten sich auffällig zurück. Fast wirkt es, als sei die öffentliche Meinungsbildung überfordert von der Ambivalenz des Verfahrens: Im Triumph der endgültigen Gleichbehandlung meldet sich die Einsicht, dass wohl doch nicht alle Unterschiede aus dem Weg zu räumen sind.