Einer aktuellen Studie zufolge sind Säuglinge schmerzempfindlicher als Erwachsene.
weinendes baby,säugling
© Bernd Vogel/Corbis/ReutersNoch bis weit in die 1980er war es gängige Praxis, dass Säuglingen bei einer Operation keine Schmerzmittel verabreicht wurden.
Neugeborene empfinden keine Schmerzen? Kaum zu glauben, aber wahr: Viele Schulmediziner sind bis heute davon überzeugt, dass Säuglinge nicht dazu fähig sind, Schmerzen wahrzunehmen - und sie handeln auch danach. Denn ihr Irrglaube führte dazu, dass zahllose Säuglinge medizinische Eingriffe ohne Schmerzmittel über sich ergehen lassen mussten. Erst jetzt - im Jahre 2015 - führten Forscher erstmalig ein MRT mit Säuglingen durch und entdeckten: Neugeborene empfinden Schmerzen - und zwar stärker als Erwachsene.


Können Säuglinge Schmerzen fühlen?

Kaum geboren, erleben Säuglinge viele Dinge, die so gar nicht ihren Erwartungen von einem freundlichen Willkommensgruss auf der Erde entsprechen.

Tests, Impfungen, Blutabnahmen und manches Mal auch Operationen müssen sie über sich ergehen lassen - und all das ist nicht selten mit Schmerzen verbunden.

Das jedoch kümmerte Mediziner nicht besonders. Denn man war davon überzeugt, dass Säuglinge so gut wie keine Schmerzen fühlen können.

Schmerzen bei Säuglingen wurden als Reflex gedeutet

Die Forschung ging tatsächlich von etwa 1880 bis weit in die 1980er Jahre strikt davon aus, dass Kinder in den ersten Lebensmonaten so gut wie keine Schmerzen empfinden können.

Dieser Wahnsinn hängt mitunter damit zusammen, dass der deutsche Psychiater und Hirnforscher Paul Emil Flechsig im Jahre 1872 herausfand, dass die Nervenzellen von Säuglingen nicht vollkommen funktionsfähig sind.

Daraus wurde dann geschlussfolgert, dass das Gehirn von Neugeborenen für das Schmerzempfinden noch nicht weit genug ausgereift sei.

Säuglinge reagieren auf Schmerzreize zwar eindeutig mit Reflexen, diese wurden jedoch als bedeutungslos interpretiert.

Auch grosse Operationen wurden ohne Schmerzmittel durchgeführt

So kam es dazu - man mag es kaum glauben - dass Säuglinge bis Ende der 1980er Jahre nur mit gering dosierter Narkose und ohne jegliche Schmerzmittel operiert wurden, wie Nicholas Rutter (Queen's Medical Centre and City Hospital im britischen Nottingham) und Len Doyal (University of London) in ihrer Arbeit Neonatal Care and Pain Management (Neugeborenenstationen und Schmerzmanagement) berichten.

Dabei handelte es sich auch nicht nur um kleine Eingriffe, wie man vielleicht gehofft hätte. Nein, sogar grosse Operationen, bei denen das Öffnen des Brustkorbes erforderlich war, wurden ohne Schmerzmittel durchgeführt.

Erst 1987 wurde in zwei Publikationen (beide von Dr. Anand, University of Tennessee) erläutert, dass sich offenbar die "Stressreaktionen" während der OP bei jenen Säuglingen verringerten, die Schmerzmittel bekommen hatten. Auch war bei diesen Säuglingen die Erfolgsrate der chirurgischen Eingriffe stets höher als bei Säuglingen, die ohne Schmerzmittel operiert wurden.

Das jedoch änderte an der OP-Praxis unverständlicherweise wenig, so dass sich erst in den letzten beiden Jahren langsam ein Umdenken auf den Säuglingsintensivstationen bemerkbar machte - was sich hoffentlich jetzt noch weiter verstärken wird.

Denn Wissenschaftler von der University of Oxford haben kürzlich mit Säuglingen die welterste MRT (Magnetresonanztomografie) durchführen können und dabei festgestellt, was sicher viele Eltern noch nie bezweifelt haben: Säuglinge spüren natürlich Schmerzen - und das auch noch heftiger als Erwachsene.

Säuglinge spüren Schmerzen heftiger als Erwachsene

Ursprünglich glaubten Wissenschaftler, es sei nicht möglich, Säuglinge so in einem MRT-Scanner zu platzieren, dass sie dort auch ruhig liegen bleiben. Immerhin sorgen schon kleinste Bewegungen des zu Untersuchenden dafür, dass die Aufnahmen nicht mehr auszuwerten sind.

Nun aber wagte man erste Versuche mit schlafenden Säuglingen.

Die Forscher der Oxford University konnten dabei zeigen, dass bei Säuglingen, die Schmerz empfinden, dieselben Hirnregionen aktiviert werden wie bei Erwachsenen.

Studienautorin und Kinderärztin Dr. Rebeccah Slater erklärte:
"Tausende von Säuglingen werden allein in Grossbritanniens Kinderkliniken und Kinderarztpraxen tagtäglich schmerzhaften Prozeduren unterzogen - ohne Schmerzmittel! Unsere Studie hat nun aber gezeigt, dass Säuglinge sogar noch sensibler auf Schmerzen reagieren als Erwachsene."
Die Forscher untersuchten die Gehirne von 10 gesunden Neugeborenen, die zwischen 1 und 6 Tagen alt waren sowie die Gehirne von 10 gesunden Erwachsenen im Alter zwischen 23 und 36 Jahren.

Dann piekte man mit einer speziellen Vorrichtung in die Füsse der Probanden. Es handelte sich um einen "Schmerz", den man empfindet, wenn man etwa mit einem Bleistift gepiekst wird. Er war jedoch so schwach, dass die schlafenden Säuglinge davon nicht erwachten.

Man stellte fest, dass Säuglinge Schmerz vier Mal (!) stärker empfinden als Erwachsene.

60 Prozent aller Säuglinge erleben schmerzhafte Eingriffe ohne Schmerzmittel

Es treibt einem die Tränen in die Augen, wenn man angesichts dieser Tatsache erfährt, dass 60 Prozent aller Säuglinge keine Schmerz lindernden Medikamente erhalten, wenn sie auf Intensivstationen schmerzhaften Prozeduren unterzogen werden - auch dann nicht, wenn die schmerzhaften Eingriffe durchschnittlich 11 Mal pro Tag erfolgen.
"Es sind dringend neue Leitlinien für Kinderkliniken erforderlich, damit Ärzte wissen, wie Sie bei Säuglingen Schmerzmittel anwenden müssen, wenn diesen schmerzhafte Prozeduren drohen",
so Dr. Slater.

Vielleicht lässt sich mit der Schmerzmitteleinsparung bei Operationen oder anderen schmerzhaften Eingriffen bei Säuglingen die oftmals panische Angst vor Ärzten oder allein vor weissen Kitteln erklären, die so manche Menschen ihr Leben lang begleiten.

Quellen: