Das Internet hat unser Leben verändert, heißt es. Es macht uns alle effektiver, heißt es. Zukünftig haben wir alle ein schöneres Leben, heißt es - Pustekuchen. Ein Kommentar über digitale Ausbeutung, innovativen Stillstand und den Narzissmus von uns allen.
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© Daniel Reinhardt/dpa
Ich scrolle und scrolle durch meinen Facebook-Stream - endlos. Das soziale Netzwerk hat dieses Feature eingebaut, damit ich am Leben meiner Freunde und Bekannten teilhaben kann. Ich lese geteilte Artikel, die meine Freunde selbst nicht mal gelesen haben und klicke mich durch Urlaubs-, Party- und Hotdog-Leg-Fotos, während ich voller Neid feststelle, dass mein gestriges Abendessen nicht so fancy war, wie das heutige Mittagessen eines Ex-Kommilitonen. Das ist es, das letzte soziale Netzwerk: Facebook. Chatrooms, die mit Profilen ziemlich genau das gleiche konnten, wie lange Zeit Facebook, gehören jetzt der Vergangenheit an. Sie wurden verdrängt, verbessert und erneuert - die „Disruptive Innovation“ hat sie ausgelöscht.

Aber „Disruptive Innovation“ ist zu einer Floskel geworden. Tagtäglich hören wir von innovativen Startups aus dem Valley, die mit Hoodies über ihren Ohren, die Traditionsunternehmen und ihre Anzugträger regelrecht angreifen und ganze Branchen in Panik versetzen. Instagram, Uber oder Airbnb - als flinke Schnellboote werden diese ewigen Startups bezeichnet, die die großen Tanker ausmanövrieren und etablierte Strukturen aufbrechen: Traditionell ist schlecht - neu ist gut. Obwohl keiner weiß, was eigentlich „neu“ sein soll. Egal: Hauptsache innovativ, agil und dynamisch.

Ob industrielle Revolution oder das Internet, Technologie verändert. Das war zwar bis jetzt meistens schlecht für die Arbeiterklasse - zumindest in der Anfangsphase - aber Spitze für die Verbraucher der Mittelschicht, die inzwischen in den Genuss von kostenlosen Produkten wie Twitter, Google, Instagram, Pinterest, Youtube und Facebook et cetera kommen.

Während Instagram mit 14 Millionen Nutzern und einer Milliarde Fotos von Facebook übernommen wird, stirbt zeitgleich mit Kodak fast eine ganze Branche. Zuvor musste Kodak seine Patente verschleudern und 47 000 Angestellte entlassen. Unter den Käufern befindet sich auch Facebook, dass zu diesem Zeitpunkt bereits 500 Milliarden Fotos beherbergt.

Apple Thunderbolt-Display: Entwickelt von Intel

Interessant dabei: nicht Neues verändert, sondern Bekanntes. Apple ist ein gutes Beispiel dafür, wie mit disruptiven Innovationen neue Märkte geschaffen wurden. Obwohl die Produkte weniger können als die bereits Existierenden und primär bereits vorhandene Technologien kombinieren, gibt es wohl kein Unternehmen, das mehr für Innovation steht als Apple. Dabei ist an „disruptiver Innovation“ meistens gar nichts innovativ - bestes Beispiel ist wohl Kodak. Aber egal: Hauptsache ich kann mein Mittagessen mit Millionen von Nutzern teilen. Als noch von Chatrooms anstatt von sozialen Netzwerken gesprochen wurde, wäre niemand auf die Idee gekommen Fotos von den persönlichsten Dingen zu veröffentlichen. Damals wussten wir noch, dass das eigentlich total nervig ist. Dort haben wir noch verschleiert, dass wir uns primär für uns selbst interessieren - und nicht für die anderen.

Immerhin ist der größte Mythos immer noch, dass wir über soziale Netzwerke auch sozial kommunizieren. „Gemeinsam einsam“, so beschreibt die MIT-Professorin Sherry Turkle diesen Zustand in ihrem Buch Alone Together. Wir ergötzen uns an uns selbst - beinahe voyeuristisch betrachten wir unser eigenes Leben, das unserer Follower und das unserer „Freunde“.


Und Produkte wie Instagram und Co. erleichtern es uns, zu Miniprominente zu werden - Prominente am hinteren Ende des Alphabets. Und unsere größten Fans? Wir selbst - Zuckerberg & Co. sind die Dealer, eines narzisstischen und hedonistischen Zeitalters, in dem wir selbst unsere eigene Droge sind. Eine augenscheinlich kostenlose Droge - obwohl wir mit unserer Privatspähre und unserer Aufmerksamkeit bezahlen.

Wir, die scheinbaren Profiteure der „disruptiven Innovationen“, merken in der Zwischenzeit nicht, dass sich die Gesellschaft verschiebt: die Mittelschicht transformiert sich zu einer armen Oberschicht. Und die Oberschicht wird zu einer Handvoll Superreichen. Superreiche, die ihr Geld mit dem Narzismus ihrer Nutzer verdienen. Dabei sind wir die Bienen, die von der Gunst ihrer Königinnen abhängig sind. Nicht das Internet hat unser Leben verändert, sondern wir haben unseres an die Disruption angepasst - so gut es geht.

Wir leben in einer Konsum-Blase in der wir selbst die Superstars sind und in der wir danach streben, „Erfahrungen“ zu sammeln statt tatsächlich etwas zu leisten. Eine Welt, in der der Soundtrack unseres Lebens via Spotify aus überteuerten Apple-Geräten strömt; wir uns lieber bei Fremden auf der Couch einbuchen, weil wir uns kein Hotel leisten können; wir lieber bei Starbucks einchecken, anstatt richtigen Kaffee ohne Sirup zu trinken und wir lieber Netflix gucken als ins Kino zu gehen.

Unter dem Deckmantel von kontextbasierter Information und individueller und angeblicher Verbesserung unseres Alltags freuen wir uns auch noch darüber, dass wir kostenlos an dieser Transformation in ein „besseres Leben“ teilhaben dürfen - dahinter steckt aber mehr Lüge und „Distortion Field“ als Innovation und Fortschritt. Denn mit disruptiven Innovationen wie es DVD, SSD-Festplatten, USB und VoIP waren, hat das alles nichts mehr zu tun. Wir erleben vielmehr einen innovativen Stillstand.

„Disruptive Innovation“: Mehr zerstörerischer Stillstand als Innovation

Nein. „Disruptive Stagnation“ trifft es wohl eher, denn die einzige Errungenschaft der heutigen „disruptiven Innovation“ an sich besteht darin, die Nutzer auszubeuten - ohne dass sie es bemerken. Unternehmen wie Google, Facebook, Twitter und Instagram existieren nur um ihrer selbst willen - wie ein Parasit, dessen einziges Ziel es ist, sich vom Wirt zu ernähren. Der Wirt ist die ungeteilte Aufmerksamkeit der Nutzer. Wichtiger für den Nutzer selbst ist jedoch die Anerkennung - also wie viele Likes das Urlaubsfoto erhalten hat. Die Gier nach Anerkennung ist nur der Motor, der uns immer protzigere, nacktere und provozierendere soziale Interaktionen durchführen lässt. Likes, Favs, Klicks, Reichweite, Nutzeranzahl - Synonyme für die wertvollste Ressource des digitalen Zeitalters: Aufmerksamkeit. Und wie auch in der industriellen Revolution, interessiert sich niemand für die schwitzenden Arbeiter, sondern vielmehr für ihre Arbeitskraft, die durch Ausbeutung nur geringstmögliche Kosten verursachen darf.
„Die Massen sind im Grunde bereit zur Sklaverei.“

Friedrich Nietzsche
Der Unterschied zu damals: Wir sind zu diesen Arbeitern geworden, die - in ihrer Freizeit - Aufmerksamkeit generieren und dafür nicht einmal entlohnt werden müssen: Wir sind die Sklaven einer narzisstischen Geldmaschinerie.

Obwohl in Filmen beinahe immer eine künstliche Intelligenz versucht die Menschheit in irgendeiner Form zu versklaven, sieht es doch gerade jetzt danach aus, als würde die Singularität uns befreien. Ganz ohne Bedürfnis nach Anerkennung und Aufmerksamkeit werden Roboter andere Roboter bauen, die wiederum unsere Arbeiten erledigen und unsere Probleme innovativ lösen werden. Alles, damit wir uns noch besser auf uns #selbst konzentrieren können.

Ist „Disruptive Innovation“ wirklich das, was unsere Gesellschaft zum positiven verändert - ist diese zerstörerische Innovation wirklich innovativ? Ich sage nein, und like diesen Kommentar auf Facebook.