Am Freitag erlebte die Stadt einen der traurigsten Tage ihrer Geschichte. Wir zeigen, wie die Stunden in Kliniken, Innenstadt, Schule und Kindergarten verliefen.

Über 2300 Einsatzkräfte waren am Freitagabend in München im Einsatz.
© dpaÜber 2300 Einsatzkräfte waren am Freitagabend in München im Einsatz.
München - Wer an diesem Freitagabend oder in dieser Nacht in München unterwegs war, der wird sich noch lang daran ­erinnern. Diese Stimmung in der Stadt: so viel los, aber gleichzeitig alles ­gespenstisch. Wir haben erlebt: München war an der Grenze, München war im Ausnahme­zustand. Das gilt in vielerlei Hinsicht, wie wir auf diesen beiden Seiten zeigen.

Polizei: Pressesprecher wird zum heimlichen Held

München Polizei-Pressesprecher Marcus da Gloria Martins.
© dpaPolizei-Pressesprecher Marcus da Gloria Martins.
Am Samstagnachmittag ist die Mailbox voll. "Es können leider keine weiteren Nachrichten entgegengenommen werden." Bei Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins klingelt am Tag nach dem Amoklauf ununterbrochen das Handy. Der 43-Jährige, Vater zweier Kinder, portugiesische Wurzeln, aufgewachsen im Rheinland, wird seit 22. Juli im Netz als Held gefeiert. Jemand richtete ihm eine eigene Fanseite auf Facebook ein, bis Sonntagmittag klickten 52.174 Menschen auf "Gefällt mir".

"Was der Münchner Pressesprecher geleistet hat, das war großartig", sagt Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann lobt ihn vor Journalisten mit leiser Stimme. "Großartige Öffentlichkeitsarbeit", "ständige Information zum frühestmöglichen Zeitpunkt", "wohltuend". Herrmann ist keiner, der seine Leute oft oder überschwänglich lobt.

Martins, seit 23 Jahren Polizist, betont immer wieder, wie besonnen alle Kollegen im Einsatz reagiert hätten. Sie hätten es geschafft, die aufgeregt herumlaufenden Menschen auf den Straßen zu beruhigen. Einen kühlen Kopf zu bewahren, sachlich und präzise zu informieren, der Bevölkerung Vertrauen in die Polizei-Arbeit zu geben, sei seine Aufgabe gewesen.

"Es ist wichtig, nur die Infos herauszugeben, die gesichert sind." Keine Frage, die Polizei leistet am Freitag Großes. Besonders die Einsatzgruppen vor Ort. Das SEK war schon wenige Minuten, nachdem die ersten Schüsse fielen, vor Ort.

Auch die GSG9 war alarmiert. Da gibt es nur ein Problem: Die berühmte Antiterror-Gruppe hat ihre Zentrale in der Nähe von Bonn. Was natürlich bedeutet: Sie brauchen - trotz schneller Hubschrauber - eine Weile, bis sie vor Ort sind. Insgesamt waren 2300 Polizisten im Einsatz. Dazu kommt: Auch unsere österreichischen Nachbarn halfen uns sofort. Genau 42 Kräfte der Spezial­einheit Kobra waren am Olympiaeinkaufszentrum im Einsatz.

Kliniken: Hunderte Ärzte und Schwestern im Einsatz

Die ganze Stadt in Aufruhr - und auch für die Münchner Kliniken war dieser Freitagabend eine Herkulesaufgabe. Hunderte Ärzte, Schwestern, Pfleger und Techniker waren im Einsatz oder zumindest in Bereitschaft - man wusste ja nicht, wie viele Verletzte zu betreuen sein würden ... Am Ende waren 35 Menschen zu behandeln, darunter Opfer der Schießerei, aber auch Menschen, die sich panisch auf der Flucht verletzt hatten.

Prof. Dr. Wolfgang Böcker.
© KruseProf. Dr. Wolfgang Böcker.
Es war 18.17 Uhr am Freitag, als die erste Meldung im Klinikum Großhadern einging: Katastrophenalalarm! Prof. Dr. Wolfgang Böcker (48), Leiter der Unfallchirurgie, wird diese Uhrzeit nie mehr vergessen. Bereits sieben Minuten später, um 18.24 Uhr, erreichte alle Ärzte und Schwestern die Meldung!

Allein am Campus Großhadern hatte man 15 Teams gebildet, jeweils mit mehreren Fachärzten und Pflegekräften besetzt, sagt Böcker. "Diese Teams begleiten die Patienten vom Schockraum über eine gegebenfalls erforderliche bildgebende Diagnostik bis in den OP", erklärt Böcker.

Mit Schussverletzungen wurden in Großhadern zwei Schwerverletzte eingeliefert. Einer starb an seinen schweren Kopfverletzungen in der Nußbaumstraße. Ein anderer Patient habe "sehr, sehr großes Glück" gehabt, so Böcker. Er habe einen Bauchschuss überlebt und werde wohl keine bleibenden Schäden davontragen. Fünf weitere Verletze seien in Großhadern versorgt worden: "Sie waren aber nicht unmittelbar am Tatort bei der Schießerei, sondern gehörten zu der Gruppe, die aus Panik weggelaufen waren und sich auf der Flucht Schnittwunden oder Verstauchungen zuzogen", berichtet der Arzt. Einen gravierenden Fall habe es in der Innenstadt gegeben: Dort sei eine Touristin aus Angst, erschossen zu werden, aus dem zweiten Stock eines Hotels gesprungen. Sie wurde mit schweren Wirbelsäulenverletzungen in der Nußbaumstraße behandelt. Wie in Großhadern herrschte freilich auch in den restlichen Kliniken Münchens Katastrophenalarm.

TV-Studios: ARD-Reporter müssen Kritik einstecken

Der Amoklauf in München hat auch die Fernsehsender in einen Ausnahmezustand versetzt: Informieren ohne zu spekulieren, war die Maßgabe. Wie schwer das für Journalisten ist, konnte man am Freitag sehen. Denn der Wettlauf um die schnellste Information, die Flut an Bildern, Zeugenaussagen und Nachrichten aus dem Internet fordern ihren Tribut.

Wo berichtet wird, ohne dass die Faktenlage klar ist, begeben sich TV-Journalisten auf dünnes Eis. Und so wirkte ARD-Moderator Thomas Roth (64) auch bisweilen hilflos, hangelte sich von einer Experten-Befragung zur nächsten, spekulierte mit Terrorexperte Georg Mascolo über "islamistische Hintergründe", um dann zu betonen, "dass alles Spekulieren ja nichts bringe".

Für so viel Stochern im Dunklen gab es reichlich Kritik im Netz. "Unseriös" sei so eine Berichterstattung. Ja, sogar die Frage wurde aufgeworfen, ob es sinnvoll sei, live zu einem Reporter zu schalten, wenn der nichts wisse.

Es ist ein Dilemma, das auch ZDF-Kollege Claus Kleber nur zu gut kennt. "Schnell" sei zu einem fragwürdigen Maßstab im Journalismus geworden, sagt der Moderator des "heute-journals", der das Informationsbedürfnis der Zuschauer mit großer Souveränität stillte. Der 60-Jährige ordnete die Geschehnisse sachlich ein, stellte die richtigen Fragen und nutzte auch immer wieder Twitter als Quelle. Im Vergleich zu den Kollegen der ARD machte Kleber zweifellos die bessere Figur. Schnell waren die öffentlich-rechtlichen Sender aber alle beide. Vor der Tagesschau gab es am Freitag bereits um 19.23 Uhr eine Sonderausgabe. Fünf Stunden Nachrichten packte das Erste ins Abendprogramm. Das ZDF entschied sich dazu, nicht durchgehend zu senden, überzeugte aber mit mehreren Sonderausgaben.

Innenstadt: Panik in Wirtshäusern

Es ist 19 Uhr, als ein schreckliches Gerücht die Runde macht: Es gebe auch einen Anschlag am Stachus, wird über soziale Medien verbreitet. Mit Folgen: Tausende Menschen in der Innenstadt brechen in Panik aus. Manche suchen Schutz in Gebäuden, andere rennen Richtung Zuhause. Im Hofbräuhaus schlagen englische Touristen sogar mit einem Masskrug die Scheiben ein, um schnellstmöglich nach draußen zu kommen.

Ausnahmezustand in unserer Stadt: Smartphones liegen am Samstag auf dem Tisch, daneben unzählige Kleidungsstücke, Schuhe, zwei Kinderwagen: All das ist im Hofbräuhaus liegengeblieben, als am Freitag die Panik ausbrach. Dinge, die die Menschen zurückließen, als sie vor einer vermeintlichen Bedrohung flüchteten. Über Tische kletterten, über die Treppen des Wirtshauses rannten. Und als einige Scheiben einschlugen, um sich nach draußen zu retten.

Die Panik: Am Samstagvormittag reden die Bediensteten über nichts anderes. Ein Kollege habe sich bei dem Tumult wahrscheinlich die Schulter gebrochen, erzählt eine Angestellte. Im Hofbräuhaus spielten sich am Freitagabend Szenen ab, die es noch nie gegeben hat. Rund 1500 Gäste seien dagewesen, sagt Wolfgang Sperger, der Wirt. Um kurz vor 19 Uhr kamen vom Tal aus Leute hereingerannt, die völlig außer sich waren und etwas von Schüssen riefen. "Sie haben die Gäste verunsichert", sagt Sperger. Einige rannten hinten hinaus, einige die Treppen hinauf in den Saal und weiter zu höheren Räumen. Gleichzeitig warfen Gäste Tische um und versuchten, sich zu verbarrikadieren. "Natürlich gehen diese Konzepte miteinander nicht auf."

Zahlen der Polizei beweisen, wie verängstigt viele Bürger waren: Innerhalb von sechs Stunden gingen 4320 Notrufe ein. Zum Vergleich: Normal sind 1500 - an einem ganzen Tag. Gut 100 Menschen suchten am Freitag übrigens Hilfe im Polizeipräsidium in der Ettstraße. Dort wurden sie mit offenen Armen empfangen.

Jetzt spürt man, wie eine ganze Stadt wieder zur Ruhe kommen will. Daher wurden auch alle Veranstaltungen im München - darunter das Tollwood sowie das Fan-Fest des TSV 1860 - abgesagt.

Kindergarten: Erst um 2 Uhr geht's nach Hause

200 Meter von der Stelle entfernt, an der Amokläufer Ali S. sich um 20.30 Uhr erschießt, liegt der Kindergarten an der Dieselstraße. Eng gedrängt stehen und hocken hier über Stunden hinweg rund 200 Menschen: Eltern, Kinder, Erzieher und schutzsuchende OEZ-Besucher. Erst gegen 2 Uhr lässt die Polizei sie wieder raus.

Eine von ihnen war Melitta Tombul (48). Sie wohnt direkt am OEZ. "Wir waren beim Sommerfest vom Kindergarten. Plötzlich schrien die Leute: Weg, weg! Schüsse habe ich nicht gehört. Aber es brach Panik aus." Alle rennen in den Kindergarten und sperren sich ein. Melitta Tonbul ruft ihre Tochter Melisa an, die am OEZ ist: "Sie weinte und sagte: Mama, hier wird geschossen. Ich sagte: Lauf, lauf um dein Leben. Wir trafen uns im Kindergarten. Ich war so froh, als ich sie wieder­sah." Inzwischen bewachten schwer bewaffnete Polizisten auch den Kindergarten.

Eine andere Mutter erzählt: "Die Polizisten sind sehr streng aufgetreten." Als sich um 20.30 Uhr der Amokläufer um die Ecke erschießt, ist dies auch im Kindergarten zu hören. Doch die Horror-Nacht ist damit noch nicht vorbei. "Da ja nicht klar war, ob es noch weitere Täter gibt, durften wir weiterhin nicht hinaus." Stunde um Stunde vergeht, für alle ist die Situation extrem belastend: "Immer hat irgendein Kind geweint."

Endlich, gegen 2 Uhr morgens, kommt die Erlösung. "Polizisten haben die Familien sogar noch heimbegleitet. Einige Freunde haben bei uns übernachtet." Schnell einschlafen konnte aber keiner in dieser Horror-Nacht.

Trotz Krise: Gymnasium schickt Kinder heim

Am Käthe-Kollwitz-Gymnasium hat die Krisenbewältigung am Freitagabend womöglich versagt. So berichten es Eltern, deren Tochter das dortige Sommerfest besuchte.

Das städtische liegt an der Nibelungenstraße, etwa drei Kilometer Luftlinie vom OEZ. Mehr als 400 Schüler, Lehrer und Gäste feiern am Freitag fröhlich ihr Sommerfest. So berichtet es die ehemalige Schülerin, die letztes Jahr dort Abitur gemacht hat und auch heuer das Fest besuchte. Ihren Namen möchten die Eltern nicht in der Zeitung lesen.

Gegen 18.15 Uhr ereilt die Feiernden die Nachricht vom Amoklauf. Gegen 19.15 Uhr, sagt die Ex-Schülerin, gab es eine Durchsage der Schulleitung, die etwa so gelautet habe: „Es war ein schönes Sommerfest. Leider regnet es jetzt. Und wegen einer unübersichtlichen Situation in der Stadt lösen wir die Veranstaltung auf, und alle sollen nach Hause gehen.“ Daraufhin seien viele Schüler, jüngere wie ältere, panisch geworden. „Sie haben geweint“, sagt die frühere Abiturientin. Weil sie ihre Eltern nicht erreichen konnten, nicht wussten, wohin sie gehen sollten: Der öffentliche Nahverkehr war seit 19 Uhr außer Betrieb. Weil sie Angst hatten heimzugehen, und weil ihnen kein Raum zur Sicherheit angeboten wurde.

„Das ist grausam“, sagen die Eltern, „und ein Trauerspiel der Pädagogik.“ Zwar hätten einzelne Lehrer angeboten, bei den Kindern zu bleiben. Doch warum habe die Schulleitung so „diametral falsch“ reagiert? Warum wurden nicht die Schüler in die Klassenräume gebracht und die Türen verbarrikadiert?

An Schulen gibt es gewöhnlich ein Kriseninterventionsteam, das laut Kultusministerium professionell fortgebildet sein sollte. Fachleute empfehlen, in Krisen nach einer bestimmten Formel zu handeln. Laut den Eltern gibt es am Gymnasium ein „perfekt geführtes Krisenteam“. Was nun geschah, können sie sich nicht erklären: „Sowas darf nicht passieren.“

Bayern-Star Bernat: Beim Friseur verbarrikadiert

Juan Bernat vom FC Bayern.
© MISJuan Bernat vom FC Bayern.
Nochmal kurz zum Friseur, bevor es mit den Bayern am Montagin die Staaten geht - so sah der Plan von Juan Bernat am Freitagabend aus. Doch es kam anders. Auch der Linksaußen des Rekordmeisters sah sich den Folgen des Amoklaufs am OEZ ausgesetzt und fühlte das, was wohl jeder Münchner vergangenen Freitag fühlte: Angst.

"Es hat mich mitten in der Innenstadt erwischt", sagte der Spanier nach dem 3:0-Sieg in Landshut. "Ich war beim Friseur und konnte die nächsten drei Stunden nicht mehr raus. Ich war dort eingesperrt." Bernat weiter: "Gerade in dem Moment, als ich ankam, sagte man mir, dass es eine weitere Schießerei in der Innenstadt gebe. Später stellte es sich als Falschmeldung heraus, in dem Moment sind wir aber in den Keller und dort geblieben. Gott sei Dank bin ich mit dem Schrecken davongekommen."

Ähnlich erging es der spanischen Fraktion beim TSV 1860 München. Die Löwen-Rückkehrer Rodri und Ilie Sánchez waren ebenfalls im Zentrum unterwegs, als sie sich gezwungen sahen, irgendwo Schutz zu suchen. "Wir sind dann in einen Laden und haben uns zwei Stunden lang eingesperrt. Bis neun Uhr rum waren wir da, dann haben wir uns wieder rausgetraut."

Juan Bernat möchte den Angehörigen der Münchner Opfer sein tiefstes Mitgefühl aussprechen. Der 23-Jährige: "Es war ein schwerer Moment nicht nur für die Stadt, sondern für die ganze Welt."

weg, thi, sri, lop,chu