Ob Atlantis oder Vineta - Legenden von Orten, die im Meer versanken, haben bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Eine davon, die Geschichte von Rungholt, spielte sich direkt vor unserer Haustür ab, in der Nordsee.

Das versunkene Rungholt, eingezeichnet auf einer Karte von Johannes Blaeu, 1662
© historischDas versunkene Rungholt, eingezeichnet auf einer Karte von Johannes Blaeu, 1662
Der Sage nach wurde die reiche, aber sündige Stadt von einer gewaltigen Flut als „Gottesgericht” in den Untergang gerissen. Bis heute ist allerdings weder klar, wo Rungholt genau lag, noch ob es tatsächlich eine wohlhabende Stadt oder gar ein bedeutender Handelshafen war.

Archäologen, Historiker und jede Menge Laienforscher sind auch jetzt noch auf Spurensuche. Sie studieren alte Quellen, durchsuchen das Watt zwischen Pellworm, der Hallig Südfall und Nordstrand und streiten sich - teilweise erbittert - um die korrekte Interpretation der historischen Berichte und archäologischen Funde.

Trutz, Blanke Hans! Rungholt in Sage und Gedicht

Erstmals erwähnt wird der Untergang Rungholts im 17. Jahrhundert. Der Chronist Anton Heimreich berichtet 1622 in seiner Nordfriesischen Chronik über eine schlimme Sturmflut, die im Jahr 1362 den südwestlich des heutigen Pellworm gelegenen Kirchort in den Fluten versinken ließ. Seiner Ansicht nach und auch der vieler seiner Zeitgenossen, war diese „Sintflut“ eine gerechte Strafe für den Hochmut und die „sündhafte Lebensweise“ der Rungholter.

Ein Gottesgericht: Die Rungholtsage

Denn der Sage nach sollen die der Völlerei und Trunksucht ergebenen Bewohner Rungholts einem Priester einen bösen, gotteslästerlichen Streich gespielt haben. Im Kern berichten alle Varianten des Mythos davon, dass betrunkene Rungholter diesen nachts zu einem vermeintlich Kranken riefen. Dort angekommen, gab es aber keinen Patienten, stattdessen wollten die Leute ihn zwingen, einer Sau das Sakrament zu erteilen. Der Priester weigerte sich jedoch. Daraufhin schütteten die „Unholde“ Bier auf die heiligen Oblaten und beschimpften und schlugen ihn.

Historische Darstellung eines versunkenen Ortes
© historisch Historische Darstellung eines versunkenen Ortes
Wieder zuhause angelangt, bat der Priester Gott um Hilfe und Rache. Und die Antwort kam prompt. Ein Traum warnte ihn in noch in der gleichen Nacht, nicht in seinem Haus zu bleiben: „Weichet sofort mit den Eurigen auf die Hügel, denn bald wird Rungholt untergehen.“ Und so geschah es dann auch: Die Stadt versank in den tobenden Wasserfluten eines gewaltigen Sturms.

Der Mythos wäre jedoch nicht vollständig, wenn die Sage nicht auch davon berichten würde, dass die versunkene Stadt nicht zerstört wurde, sondern bis heute auf dem Meeresgrund stehe. Bei besonders niedrigem Wasser können man sogar in der Ferne den Kirchturm aus dem Wasser ragen sehen und leise Glockenklänge hören...

Blanker Hans: Das Rungholt-Gedicht

1882 griff der Dichter Detlev von Liliencron diese Geschichte auf und machte daraus das bis heute berühmte Gedicht „Trutz, Blanke Hans”. In ihm berichtet er vom Untergang der Stadt als „Gottesgericht“ und gibt Rungholt dabei geradezu babylonische Züge:
„Rungholt ist reich und wird immer reicher,
Kein Korn mehr fasst selbst der größte Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom,
staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
Mit Goldblech und Flitter in Nase und Ohren.
Trutz, Blanke Hans.

Auf allen Märkten, auf allen Gassen
Lär(??)mende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
Wir trotzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich!
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans.“
Einige Strophen später dann ist es soweit: Der „Blanke Hans“ schlägt zurück:
„Ein einziger Schrei - die Stadt ist versunken.
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm anderen Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans?“
Faszination bis heute

Die Sage, und mehr noch das Gedicht von Liliencron lösten Ende des 19.Jahrhunderts eine bis heute andauernde Faszination für das Thema Rungholt aus. Auf der nordfriesischen Insel Pellworm finden jedes Jahr zu Himmelfahrt die „Pellwormer Rungholttage“ statt. Hier treffen sich Hobbyarchäologen, Rungholt-Sucher und Interessierte zum Austausch. Auf Exkursionen in das Watt suchen sie nach möglichen Spuren des „Atlantis des Nordens“.

Küstendorf oder Handelsstadt? Streit um Existenz und Bedeutung von Rungholt

Lage der Edomsharde vor der großen Flut von 1362
© historisch ZoomLage der Edomsharde vor der großen Flut von 1362
Im Gegensatz zur Edomsharde, dem Gebiet, in dem Rungholt gelegen haben soll, gab es für Rungholt lange Zeit keinerlei Dokumente, Siegel oder zeitgenössische Erwähnungen. Zwischenzeitlich wurde daher die Existenz dieses Ortes ganz in Frage gestellt und die Geschichte komplett in das Reich der Legende verwiesen.

Doch dann entdeckten Forscher auf der Rückseite eines Hamburger Testaments aus dem Jahr 1345 eine Eintragung, in der „Edomsharde, Kirchspiel Rungholt, Richter, Ratsleute, Geschworene, Thedo Bonisson samt Erben“ als Adressat genannt wird. Bis heute ist dies das einzige bekannte Dokument aus der Zeit vor dem Untergang der Stadt. Offensichtlich muss es Rungholt demnach tatsächlich gegeben haben, als eigenes Kirchspiel, also als Ort mit einer Kirche in der Edomsharde liegend.

Scherben, Münzen und Salz

Aber welche Bedeutung hatte dieses Kirchspiel? Genau das ist bis heute umstritten. War Rungholt wirklich eine Hafenstadt von übergeordnetem Rang, wie einige Forscher meinen, oder handelte es sich doch nur um eine kleine, unbedeutende Marschsiedlung?

In den Karten und historischen Aufzeichnungen finden sich kaum Hinweise auf eine herausgehobene Stellung Rungholts. Auf den ersten Blick scheint der Ort seine Berühmtheit primär seinem Untergang zu verdanken, weniger seiner wirtschaftlichen oder kulturellen Bedeutung.

Solche Torf-gedeckten Häuser waren im 14. Jh. verbreitet. War Rungholt vielleicht nie mehr als ein Marschdorf?
© rechtefrei ZoomSolche Torf-gedeckten Häuser waren im 14. Jh. verbreitet. War Rungholt vielleicht nie mehr als ein Marschdorf?
Das allerdings sieht Hans-Peter Hennigsen, Autor zweier Bücher über Rungholt, etwas anders. Seiner Ansicht nach war Rungholt eine wichtige Hafenstadt für die Bewohner der nordfriesischen Marschlande. Denn die sumpfigen Marschen waren, über den Landweg nur schwer zu erreichen und daher auf den Wasserweg angewiesen. An einem Wattenstrom, dem Hever, gelegen, könnte der Ort bei Hochwasser gut vom Meer aus ansteuerbar gewesen sein, bot aber bei Niedrigwasser gute Bedingungen für das Be- und Entladen der Schiffe, da der Hafen dann trocken fiel.

Handelbeziehungen bis zum Mittelmeer?

Der Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Duerr, der sich seit gut einem Jahrzehnt mit Rungholt beschäftigt, glaubt hier sogar den Schlüssel für überregionale Handelbeziehungen der Stadt zu erkennen. Belege sieht er in einigen von ihm im Watt entdeckten Keramikfunden, die aus Kreta und anderen Gebieten im Mittelmeerraum stammen sollen. Auch mittelalterliche Silbermünzen und Reste exotischer Gewürze will der Forscher aufgespürt haben. Während der Handelssaison, so die These Duerrs, könnte Rungholt sogar bis zu 4.000 Einwohner gehabt haben.

Dieser Ansicht stehen allerdings die meisten anderen Rungholt-Forscher eher skeptisch gegenüber. Zwar halten sie Rungholt auch für einen Handelshafen, da er verkehrsgünstig an der Alten Hever, einem Wattenstrom, lag. Das durch den Torfabbau in dieser Region gewonnene Salz könnte so auf dem Seeweg verschifft worden sein. Für großen Reichtum oder gar Beziehungen zum Mittelmeerraum sehen sie jedoch keine Belege.

Spurensuche: Wo lag Rungholt?

Während die grundsätzliche Existenz eines Ortes namens Rungholt inzwischen geklärt scheint, ist seine Lage nach wie vor Gegenstand von Rätselraten, akribischer Spurensuche und Diskussionen.

Unklarheiten schon auf alten Karten

Einige Kartographen des 17. Jahrhunderts, darunter vor allem Johannes Mejer aus Husum, zeichneten einen Ort namens Rungholt nordöstlich oder nördlich der Halligen Niedam und Südfall ein. Sie werden folglich immer wieder zitiert und gezeigt, wenn es um Rungholt oder aber das historische Aussehen der Küste Nordfrieslands und Dithmarschens geht.

In dem Bereich zwischen Pellworm, Nordstrand und Südfall könnte Rungholt gelegen haben.
© Google EarthIn dem Bereich zwischen Pellworm, Nordstrand und Südfall könnte Rungholt gelegen haben.
Doch so genau Mejer bei der Kartierung der Gegebenheiten seiner Zeit war, so viel Freiheit erlaubte er sich bei der Rekonstruktion der geographischen Bedingungen der Vergangenheit. Denn der Ort Rungholt, den er so vermeintlich akribisch in seinen Karten verzeichnete, war ja bereits rund 300 Jahre vor seiner Zeit in den Fluten versunken. Auch er war auf historische Überlieferungen und Aufzeichnungen angewiesen. Seine Karten geben daher zwar einen umfassenden Einblick in die Geographie zur Zeit Rungholts, sind aber aller Wahrscheinlichkeit nach in vielen Details nicht sonderlich genau.

Hinzu kommt, dass ein weiterer Kartograph dieser Zeit, Peter Sax aus Alt-Nordstrand, von Mejers Kartierung abweicht. Auf seinen Darstellungen liegt Rungholt sehr viel weiter südlich, fast genau an der Stelle, an der sich heute die Hallig Südfall befindet.

Der Dichter Detlev Liliencron wiederum, der Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Gedicht „Trutz, Blanke Hans“ den Untergang Rungholts beschrieb, griff bei der räumlichen Einordnung gleich ganz daneben: Er verwechselte den noch heute nördlich der Fährstrecke Nordstrand-Pellworm liegenden „Rungholtsand“ mit dem historischen Ort.

Wo aber lag das sagenumwobene Rungholt wirklich?

Fundstücke und Raubgräber Der Streit der Archäologen um die „richtige“ Lage

Die Suche nach dem „Atlantis des Nordens” hat eine lange Tradition. Der erste, der in der Neuzeit systematisch versuchte, Relikte der untergegangenen Stadt zu finden, war Andreas Busch, ein Bauer und Hobbyarchäologe aus Nordstrand. Am 16. Mai 1921 entdeckte er vor der Nordwestecke der Hallig Südfall eine Gruppe von sieben alten Warften, die noch alte Brunnenlöcher erkennen ließen. Auch die Überreste einer Schleuse fand er.

Seiner Ansicht nach konnten dies nur Reste Rungholts sein. Ein Vergleich mit der Karte „Clades Rungholtina“ von Peter Sax zeigte große Übereinstimmung in Lage und Aufbau der Siedlung: Schleuse, Deich und Warften lagen ziemlich genau dort, wo auch der Kartograph sie eingezeichnet hatte. Weitere Untersuchungen in den Folgejahren schienen das zu bestätigen - die Relikte könnten von Rungholt stammen.

Überraschende Entdeckung im Norden

Archäologische Fundstücke aus dem Watt - möglicherweise Relikte des sagenumwobenen Rungholt
© Joachim Müllerchen / cc by sa 2.0Archäologische Fundstücke aus dem Watt - möglicherweise Relikte des sagenumwobenen Rungholt
Doch in den 1990er Jahren kam Widerspruch aus unerwarteter Richtung: Der Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Duerr führte mit Studenten der Universität Bremen eine Ausgrabung im Watt nördlich der Hallig Südfall und der Fundorte Buschs durch und stieß dabei auf die Überreste einer mittelalterlichen Handelssiedlung - genau an der Stelle, an der auch die Karten von Johannes Mejer den Ort Rungholt vermerken.

Unter den Funden waren Hausreste, glasierte Backsteine und Fensterglas, aber auch Keramik aus Flandern, Südfrankreich und Spanien. In einem Vorratskämmerchen will Duerr sogar Gefäßrelikte mit Gewürzen aus Indien und Westafrika gefunden haben. Für den Ethnologen war damit die Frage der Lage Rungholts eindeutig geklärt.

Der „Raubgräber“-Streit

Nicht jedoch für die Forscher vom Landesamt für Vor- und Frühgeschichte in Schleswig. Sie warfen Duerr „Raubgrabung“ vor und veranlassten einen Rechtsstreit: Die Funde seien ohne Sicherung und systematische Katalogisierung einfach aus dem Watt geholt worden und damit kaum verwertbar. Duerr wiederum konterte mit dem Vorwurf, die Schleswiger Archäologen würden wichtige Erkenntnisse zurückhalten. Diese wiesen das energisch zurück mit dem Hinweis, dass die meisten Funde Duerrs längst bekannt und kartiert waren.

Die Schlussfolgerungen des Ethnologen seien jedoch völlig aus der Luft gegriffen. Das angebliche Langhaus sei eine bereits kartierte Grube, einige Datierungen falsch und zur Zeit Rungholts sei der gesamte Bereich unter Wasser gewesen, eine Stadt hätte hier also nicht stehen können.

Hallig Südfall - lag hier Rungholt?
© google EarthHallig Südfall - lag hier Rungholt?
Inzwischen neigt die Mehrheit der Rungholtforscher dazu, den Ort dort anzusiedeln, wo heute die Hallig Südfall liegt - gibt also letztlich Busch und den Landesarchäologen recht. Da die Hallig sich im Laufe der Jahrhunderte stetig nach Osten verlagert hat, überwanderte sie im Laufe der Zeit auch das Gebiet des untergegangenen Rungholt. Heute gibt sie daher nur an ihrer Nordwestecke Spuren einer möglichen Besiedlung frei. Ob es sich dabei tatsächlich um Rungholt handelt, (??) ist allerdings bis heute nicht bewiesen...

Der Untergang - Die Grote Manndränke

Das Ende Rungholts kam 1362. Drei Tage lang, vom 15. bis zum 17. Januar, wütete die Zweite Marcellusflut, auch „Grote Manndränke“ genannt an der Nordseeküste. Der anhaltende Wind schob immer mehr Wasser Richtung Küste und ließ die unzureichenden Deiche gleich reihenweise brechen.

Zeitgenössische Darstellung der Groten Manndränke von 1634 (Mandränke)
© historisch ZoomZeitgenössische Darstellung der Zweiten Groten Manndränke von 1634
Die Gewalt der Flut veränderte die Gestalt der gesamten Nordseeküste. Besonders das Gebiet des heutigen Nordfriesland und Dithmarschen wurde völlig umgeformt: Meeresarme drangen weit ins Marschland vor, gewaltige Buchten entstanden, Inseln zerbrachen und gingen unter, Halbinseln wurden zu Inseln. Riesige Flächen des zuvor über die Jahrhunderte mühsam dem Meer abgerungenen Marschlandes versanken in den Fluten - und blieben bis heute Teil des Meeres.

Bis heute gilt die Grote Manndränke als die folgenreichste Katastrophe dieser Region. Mehr als 100.000 Menschen sollen in den Fluten gestorben sein, Ländereien gingen unter und ganze Dörfer verschwanden nahezu spurlos von der Landkarte. Dieses Schicksal traf 28, nach anderen Quellen mindestens 32 Ortschaften, eine davon das sagenumwobene Rungholt.

1362 riss die Flut eine hufeisenförmige Bucht in die Insel Nordstrand.
© historisch Zoom1362 riss die Flut eine hufeisenförmige Bucht in die Insel Nordstrand.
Denn an der Südseite der Insel Strand drang das Wasser besonders weit ins Land hinein. Dort, wo vorher Weiden und Siedlungen lagen, hinterließ die Flut nur noch eine hufeisenförmige Bucht. Und irgendwo auf dem Grund dieser Bucht lag Rungholt: „Am Tage Marcelli Pontificis hat sich die Westsee durch Sturmwinde erhoben und das Wasser vier Ellen über die höchsten Deiche geführet, Städte und Dörfer umgekehret und den Flecken Rungholt neben sieben Kirchspielen in der Edomsharde verwüstet“, so beschreibt es Anton Heimreich 1634 in seiner „Nordfriesischen Chronik“.

Die Ursachen - Pest, Meer und Torfabbau

Sturmfluten waren und sind an der Nordseeküste nichts Neues. Die Bewohner von Rungholt und den umliegenden Ortschaften kannten die Kraft des Wassers und hatten längst gelernt, mit Überschwemmungen zu leben. Für die Jahre zwischen 1200 und 1300 finden sich allein in den historischen Aufzeichnungen 31 schwere Sturmfluten - doch immer war Rungholt von den schlimmsten Folgen verschont geblieben.

Warum also hatte gerade die Flut von 1362 so dramatische Auswirkungen? Auch wenn die Sage im Untergang des Ortes ganz klar ein Gottesgericht sieht, ist dies kaum als wissenschaftlich fundierte Erklärung anzusehen. Tatsächlich war es wohl erst das Zusammentreffen mehrerer Faktoren, die die Katastrophe auslösten.

Fatale Kombination

Deichbau-Darstellung im Sachsenspiegel aus dem 13. Jahrhundert
© historischDeichbau-Darstellung im Sachsenspiegel aus dem 13. Jahrhundert
Zum einen veränderte sich bereits seit 1000 n.Chr. das Klima: Es wurde wärmer und der Meeresspiegel stieg allmählich an. Der Druck auf Deiche und Warften wuchs dadurch, Wattströme flossen schneller und drangen tiefer ins Watt hinein. Vom Meer her rasten nach wie vor Stürme heran, die das ohnehin höher auflaufende Wasser immer weiter ins Land hinein trieben.

Zum anderen verursachten die ständigen Überschwemmungen Missernten und ließen die Bauern verarmen. Als Folge wurden die Deiche kaum erhöht oder gepflegt und waren viel zu niedrig für die anstürmenden Wassermassen. Doch ein Rückzug weiter ins Festland hinein konnte ebenfalls tödliche Folgen haben: Denn zwischen 1347 und 1353 wütete der „Schwarze Tod“ in Europa und raffte ein Drittel der damaligen Bevölkerung, 20 bis 25 Millionen Menschen, dahin. Für die Küstenregionen blieb das nicht folgenlos: Durch die Entvölkerung standen nach den Sturmfluten kaum Menschen oder Mittel zur Verfügung, um die Flutschäden rechtzeitig vor der nächsten Sturmflut wieder zu beheben und die Deiche zu reparieren.

Aber der Mensch trug auch sehr viel direkter zur Katastrophe bei: Der Abbau von Salztorf ließ die eingedeichten Marschflächen in vielen Gebieten entlang der Küsten absinken. Stellenweise deutlich unter dem mittleren Tidenhochwasser liegend, waren sie dem Meer nahezu schutzlos ausgeliefert, wenn der Deich einmal gebrochen war. In der Edomsharde allerdings, der Gegend, in der Rungholt lag, wurde kaum Salztorf abgebaut, das Land hatte sich hier nicht so stark gesenkt. Warum versank die Region trotzdem?

Warum gerade Rungholt? Antworten aus dem Untergrund

Dass die Grote Manndränke so starke Zerstörungen anrichtete, ist gut erklärbar. Aber warum versank dabei ausgerechnet Rungholt in den Fluten? Warum nicht die benachbarte Region um die heutige Hallig Südfall?

Einen wertvollen Hinweis gab hier Ende der 1970er Jahre das so genannte „Norderhever-Projekt“. In ihm erforschten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen unter anderem von der Universität Kiel und dem Archäologischen Landesamts Schleswig die genaue Beschaffenheit des Untergrunds im „Rungholt-Gebiet“ zwischen Pellworm und der Hallig Südfall.

Sie entnahmen Bohrkerne des Meeresbodens und analysierten die Zusammensetzung der einzelnen Schichten. Dabei zeigte sich, dass die heutige Hallig Südfall auf einem tonhaltigen Sockel liegt, der bereits aus der Zeit der Eiszeit stammt. Dieser tonige Untergrund ist stark verdichtet und damit sehr stabil. Er war vermutlich auch zur Zeit der Groten Manndränke schon vorhanden und ließ diesen Bereich daher die schwere Sturmflut unbeschadet überstehen.

Versteckter Graben im Meeresboden

Anders dagegen sah es nur wenige Kilometer nordwestlich aus: Hier entdeckten die Forscher ein bis dahin verstecktes eiszeitliches Moränental. Der feste eiszeitliche Boden ist dort durch das Schmelzwasser der Gletscher tief ausgewaschen. Der so entstandene Graben füllte sich erst nach der letzten Eiszeit nach und nach mit lockeren Ablagerungen aus Sanden und Tonen wieder auf.

Auf diesem scheinbar festen Untergrund entstanden mit der Zeit Häuser und Siedlungen, auch Rungholt lag möglicherweise im Einzugsbereich dieses unsichtbaren Grabens. Und genau das wurde den Bewohnern Rungholts vermutlich zum Verhängnis: Denn einmal überflutet gab der nur lose zusammenhaltende Untergrund unter dem Einfluss der Wassermassen nach und ließ das gesamte Gebiet absacken und in den Fluten versinken. Die Hallig Südfall dagegen, und auch die Kerne von Pellworm und Nordstranddischmoor, lagen auf dem festen Grund und blieben verschont.