In Bobigny sitzen 15 Arbeiter auf der Anklagebank, weil sie zwei Air-France-Manager bedrängt haben sollen. Auch die Arbeitskämpfe bei Alstom werfen die Frage auf, ob die Rechtsbrecher tatsächlich aufseiten der Protestierenden zu finden sind.
Streiks Proteste Frankreich
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Wie der Zufall so spielt: Am 27. September haben sich gleich zwei symbolhafte soziale Bewegungen in die französischen Nachrichten gedrängt. Zum einen sind zahlreiche Mitarbeiter von Air France zur Unterstützung jener 15 Kollegen gekommen, die vor Gericht erscheinen mussten. Ihnen wird vorgeworfen, in einem Tumult anlässlich von Protestaktionen Manager körperlich bedrängt und Kleidungsstücke beschädigt zu haben.

Zudem haben hunderte Mitarbeiter des Eisenbahnbau-Konzerns Alstom angesichts der über dem Standort Belfort schwebenden Schließungsdrohung und einer allgemein ungewissen industriellen Zukunft der Unternehmensgruppe demonstriert.

Am 5. Oktober 2015 gingen die Bilder durch Frankreich und um die Welt: Zwei leitende Führungskräfte der französischen Luftfahrtgesellschaft Air France waren gezwungen, vor der Wut der Belegschaft - vom Lageristen über die Stewardess bis zum Piloten - zu fliehen, denen die Leitung zum x-ten Mal eine weitere Kürzung verkünden wollte, nachdem sie zuvor ohnehin bereits innerhalb von drei Jahren 10.000 Stellen gestrichen hatte.

Bedarf es tatsächlich einer Illustration darüber, wie brutal es für die betroffenen Frauen und Männer ist, einfach so rausgeworfen zu werden? Und all das, weil der frühere Staatsbetrieb Air France mittlerweile zum Universum eines Lufttransportwesens gehört, das auf Druck der Europäischen Union größtenteils dereguliert ist.
Streiks Proteste Frankreich
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Es ist die Deregulierung, die der Wettbewerbsspirale Nahrung verschafft, diesem endlosen Wettlauf, in dem die so genannten Billigfluggesellschaften das Niveau der Arbeitsbedingungen und Löhne immer weiter nach unten schrauben.

Fünf Angestellte wurden entlassen, nachdem sie ihrer Verzweiflung auf Kosten des einwandfrei gebügelten Hemdes eines der beiden Firmenchefs Ausdruck verliehen hatten, und werden nun zusätzlich noch von ihrem Arbeitgeber verklagt. Die gerichtliche Verfolgung knüpft an eine verbale Aggression an, wie wir sie nunmehr von Manuel Valls - der die Gewerkschafter als "Ganoven" bezeichnete - ebenso wie einst von Nicolas Sarkozy gehört hatten.

Für die herrschende Klasse war dieses Bild unerträglich und gefährlich: Arbeitgeber, die gezwungen waren, kläglich der Wut derer zu weichen, die sie normalerweise gewöhnt sind, zu unterwerfen, zu zwingen, zu demütigen. Wie lange war so etwas schon nicht mehr vorgekommen? Für einen Augenblick hat sich der Vorhang flüchtig geöffnet und die ganze Härte der sozialen Beziehungen aufgezeigt - nur ausnahmsweise in einem Moment, in dem einmal zurückgeschlagen wurde.

Das fiel nun wirklich aus dem eleganten Rahmen des "sozialen Dialogs", den der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und die Europäische Kommission so gern preisen und beschwören.

Es war jedoch die gleiche Kommission gewesen, die ihren eigenen Beitrag zur Destabilisierung von Alstom geleistet hat, als sie sich zum Beispiel 2004 gegen die Rekapitalisierung des Unternehmens durch den französischen Staat ausgesprochen hatte. Dabei war der damalige EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti eine der treibenden Kräfte. Die Kommission musste zwar damals vorerst einen Rückzieher machen, die Freude der Beschäftigten währte jedoch nur kurz.

Seither hat die industrielle Unternehmensgruppe nicht aufgehört, in den Freuden der Globalisierung zu ertrinken; einer Globalisierung, die man auch als die Freiheit der transnationalen Oligarchen definieren kann, ihr Kapital jederzeit ganz nach Belieben zu platzieren und abzuziehen. Das ging solange, bis die Alstom-Gruppe, nachdem sie viele Male zerlegt und umstrukturiert worden war, schließlich im Jahre 2015 ganz einfach den größten Teil ihrer Aktivitäten - nämlich die Turbinen - an den US-Giganten General Electric abgab, angeblich, um den gefährdeten Bereich der Transportaktivitäten retten zu können.

Jetzt, wo diese in den USA hergestellt werden, fehlen aber genau in diesem Bereich die "Aufträge". Das alles vollzieht sich auch noch kurze Zeit, nachdem ein deutsches Unternehmen der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF eine Ausschreibung weggeschnappt hat - und solche sind nach den Regeln der Europäischen Union vorgeschrieben. Bezüglich des "Jahrhundertvertrages", der zuvor mit General Electric in den Vereinigten Staaten unterzeichnet worden war, hatte Brüssel noch nicht in diesem Maße auf seine politischen Befugnisse gepocht...

All das veranlasst die europäischen Verantwortlichen und ihre Mediensprecher höchstens zu einem traurigen Schulterzucken. Sie scheinen eher bereit zu sein, sich aufzuregen, wenn einer aus ihren eigenen Reihen auf eine vielleicht ein wenig zu ungeschickte Weise seine Nähe zum Milieu des globalisierten Geschäftslebens zeigt.

"Oh!", entrüstet man sich dann auf höchster Ebene: Da war doch Neelie Kroes, die Nachfolgerin Mario Montis als ehemalige EU-Wettbewerbskommissarin, in eine Offshore-Firma mit Sitz auf den Bahamas verwickelt. "Oh!", zeigt man sich auf den Fluren in Brüssel und in der europhilen Presse indigniert, hat doch José Manuel Barroso, der ehemalige Präsident der EU-Kommission, schnell einen Job bei Goldman Sachs gefunden.

Als ob die amerikanische Geschäftsbank nicht ohnehin schon einen großen Teil der Brüsseler Elite beherbergt hatte! Um nur zwei Beispiele zu nennen: den aktuellen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, oder auch... einen gewissen Mario Monti. Die Welt ist doch wirklich klein.

Müssen wir uns also in moralische Entrüstung hüllen? Oder eher feststellen, dass Herr Barroso, Frau Kroes und Konsorten doch nur die eigentliche Natur der EU seit ihren Anfängen veranschaulichen: die Regierung der Multinationalen, für die Multinationalen und durch die Multinationalen. Eine postmoderne Inszenierung der Demokratie, in der nur die ohne Rang und Namen auf eine Anklagebank kommen und Gefahr laufen, hinter Gittern zu landen.