Der Erlass des russischen Präsidenten Wladimir Putin über die Anerkennung der Pässe in Donezk und Lugansk lebender Bürgern der Ukraine sorgt im Westen für Empörung. Der humanitäre Akt war aber längst überfällig. Das Timing war trotzdem gut gewählt.


Donezk Mädchen Ausweis
© SputnikMädchen zeigen ihre ersten Ausweise. Diese hat das Standesamt der Donezker Volksrepublik am 16. März 2016 ausgestellt.
Dem Erlass zufolge können Bürger der Ukraine und Staatenlose, die ständig in einzelnen Bezirken der Gebiete Donezk und Lugansk wohnen, auf Vorlage ihrer Ausweisdokumente hin ohne Visum nach Russland einreisen. Anerkannt würden nun Ausweise, Bildungs- oder Berufsbildungszeugnisse, Geburtsurkunden, Heirats- und Scheidungsurkunden, Namensänderungsurkunden, Sterbescheine, Fahrzeugscheine und Autokennzeichen, die von den zuständigen Stellen ausgestellt worden sind. Die Bezeichnung "einzelne Bezirken" umschreibt die so genannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Das Minsker Abkommen wählte diese neutrale Bezeichnung für jene Gebiete im Osten der Ukraine, die seit dem Putsch vom Maidan 2014 nicht mehr unter der Kontrolle der Regierung in Kiew stehen.

Damit werden - indirekt und vorübergehend - jene Behörden, die solche Dokumente ausstellen, zum ersten Mal seit drei Jahren in einen juristisch legitimen Raum gerückt, zumindest in Russland. Aus diesem Anlass waren zahlreiche westliche Vertreter sehr schnell mit ihrer Kritik am Kreml zur Stelle:
Die Anerkennung von Dokumenten der separatistischen 'Republiken' ruft Besorgnis hervor und widerspricht den vereinbarten Zielen von Minsk" - twitterte die US-amerikanische Botschaft in Kiew.



Der Generalsekretär der OSZE, Lamberto Zannier, äußerte sich ähnlich im Interview mit Radio Liberty am Rande der 53. Münchner Sicherheitskonferenz in München. Das Vorgehen Moskaus sei ein "Schritt zurück", der die Realisierung der Minsker Vereinbarungen erschwere. Es komme de facto der Anerkennung derjenigen gleich, die diese Dokumente ausstellen.

Verwunderlich ist aber vor allem eine solche Reaktion vonseiten einer vermeintlich neutral gearteten internationalen Organisation. So übersieht Generalsekretär Zannier gleich einmal die Präambel, die das Erlass des russischen Präsidenten begründet. Verabschiedet wurde die Bestimmung demnach
zum Zweck der Verteidigung der Rechte und Freiheiten der Menschen und des Bürgers, geleitet von den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des internationalen humanitären Rechts.
Die Sorge um Menschenrechte ist seit langem zu einem der Hauptschwerpunkte in der Tätigkeit der OSZE geworden. Mithilfe eines dichten Netzes aus NGOs beobachtet sie die Einhaltung der Rechte und Freiheiten der Bürger in ihren Mitgliedstaaten.

Die Existenz eines Reservats mit vier Millionen de facto entrechteter Einwohner scheint die Menschenrechtler von der OSZE aber nicht zu stören. Egal, wie man zu ihrer Existenz steht: Die Volksrepubliken Donezk und Lugansk gibt es seit fast drei Jahren. Auf deren Territorium sterben Menschen, Menschen heiraten, es werden Menschen geboren, sie absolvieren Schulen und Hochschulen, kaufen Autos, machen Führerscheine, sie führen ein Leben wie andere auch.

Außerdem müssen sie oft verreisen und dafür die Grenzen ihres Gebiets verlassen. Der Zwang, dies nur mit ukrainischen Papieren zu machen, ist in dem Moment, da immer mehr Menschen die von den dortigen Behörden ausgestellten Urkunden benutzen, nichts Anderes als Diskriminierung.

Der nunmehrige Akt der Russischen Föderation sollte Millionen von Menschen, die seit Jahren in der rechtlichen Grauzone ausharren, eine Perspektive bieten und Hoffnung auf die Wahrnehmung ihrer Nöte geben. Praktisch bedeutet das zum Beispiel, dass sie auf dem russischen Territorium mit ihren Dokumenten Bahn- und Flugtickets kaufen können, was ihre angespannte soziale Situation verbessern kann. Diese rührt nicht zuletzt daher, dass Kiew eine Blockade gegenüber den Regionen betreibt und nicht einmal Renten ausbezahlt. Viele Einwohner des Donbass fahren zur ihren Verwandten nach Russland oder suchen dort einen Job.

Die internationale Praxis kennt viele ähnliche Beispiele, humanitäre Prinzipien bieten einen weitreichenden Handlungsspielraum. Viele Experten warnten die russische Führung bereits seit langem, die Initiative im Konflikt nicht zu verlieren und für Millionen Betroffenen Menschen sowohl in den nicht anerkannten Republiken als auch auf dem Territorium der Restukraine mehr zu tun. Eine schrittweise Anerkennung könnte mehr Transparenz schaffen und die Hilfe, die ohnehin an den Donbass fließt, besser kontrollierbar machen.

Dafür spricht sich auch die öffentliche Meinung in Russland aus. Laut der letzten Erhebung des Allrussischen Soziologischen Instituts WZIOM mit etwa 1.500 Teilnehmern sind 24 Prozent der Russen für eine juristische Anerkennung der Donbass-Republiken. Für deren Rückführung in die Ukraine nach dem heutigen Kiewer Plan sprachen nur vier Prozent der Befragten aus.

Die neuen Territorien auf juristisch umstrittenerem Wege in das eigene Staatsgebiet aufzunehmen, gehört nicht zur russischen langfristigen Strategie, auch wenn diese Territorien noch vor kurzer Zeit ein unanfechtbarer Teil eines Staates mit einer russischen Hauptstadt waren. Auch wenn sich die dortige Bevölkerung das mehrheitlich wünscht und sich sonst bedroht fühlt, ist die Russische Föderation nicht an einem weiteren Vorgehen wie auf der Krim interessiert. Dort hatte man sich für eine Anerkennung der Sezession entschieden, weil es dort unter anderem bereits eine autonome Regierung gab und diese auch juristisch handfeste Prozesse einleiten konnte.

Volkspolizei Donezk
© SputnikDie Mitarbeiter der Volkspolizei in Donezk bei der Ausgabe der ersten Ausweise der Donezker Volksrepublik am 16. März 2016.
Dies gaben auch die russischen Parlamentarier im Zuge der erneuten Debatten um die Verschärfung des Konflikts einmal mehr zu verstehen. Unter anderem wies der langjährige Senator und außenpolitische Experte Igor Morosow im Gespräch mit Radio Vesti FM vielsagend auf die erfolgreiche Geschichte von Taiwan als einer anderen Variante des chinesischen Staates hin. Auch die Erfolge in Gesprächen um den jahrzehntelangen Konflikt um Nord-Zypern hat er genannt.

Andererseits ist die Existenz eines aggressiven und unberechenbaren Nachbars, wie die Ukraine es heute ist, für die russische Führung nicht hinnehmbar. Eine antirussische Regierung und die grenzenlose Dominanz antirussischer Kräfte im ukrainischen öffentlichen Raum ist das, was man nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen kann. Die Hoffnung, die bei manchen russischen Politikern durchschimmert, man könnte mit dem Westen über die Ukraine neu verhandeln und auf diese Weise deren Stabilität sichern, ist haltlos.

Für politische Eliten, die heutzutage im Westen dominieren, ist die alleinige Existenz eines souveränen Russlands eine Bedrohung.


Die Eindämmung Russlands ist nach wie vor erklärtes Ziel der US-Politik, wie es der US-Vizepräsident Michael Pence auf der Münchner SiKo aufs Neue betonte. Niemand im Westen wird solche starken Aktiva wie die Ukraine aus der Hand geben.


Man sollte daher sowohl in der Ukraine mit Methoden einer Soft Power aktiver werden als auch weiterhin mit dem Westen verhandeln.

Einer der Wege dazu ist es, an die russische Bevölkerung in der Ukraine zu appellieren. Die Grenzen zwischen der russischen und der ukrainischen Identität sind ohnehin fließend und es gibt nach wie vor genug Menschen in der Ukraine, die sich an Russland oder zumindest an der russischen Kultur und Sprache orientieren. Diesen Menschen sollte eine russische Loyalität ermöglicht werden, schlagt z. B. der Experte Michail Remisow vor:
Die Staatsbürgerschaft und 'Karte des Russen' in Analogie zur 'Karte des Polen' ist ein guter und bildhafter Ausdruck dieser Loyalität. Diese wird sicherlich keine Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine umfassen. Aber auf jeden Fall einen durchaus wesentlichen Teil, sagte der Politologe in einem Interview vom 17. Januar.
Im gleichen Interview schlug der Experte die Anerkennung von Dokumenten aus den Volksrepubliken als einen juristisch und humanitär absolut notwendigen Akt vor. Dieser Vorschlag wurde nun auch 1:1 umgesetzt. Es bliebt zu hoffen, dass auch weitere bereits von Expertern angedeutete und auf vielen Talkplattformen diskutierten Schritte folgen.

Dass die russische Führung mittlerweile bereit ist, auch im Gespräch mit dem Westen neue Töne einzuschlagen, zeigte der Auftritt des russischen Außenministers Sergej Lawrow im Podiumsgespräch auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Dort sagte er, dass die russische Seite auch dann über die Aufhebung der Sanktionen nachdenken kann, wenn der Westen seinen Part der Minsker Abkommen umsetzt.

Zusammen mit dem Urkunden-Erlass vom 18. Februar bildete diese rhetorische Spitze ein gutes Doppelpack im russischen Beitrag zur Sicherkeitskonferenz. Die Gültigkeitsdauer des Erlasses ist mit der vollständigen Umsetzung der Minsker Vereinbarungen befristet.