Großes Aufräumen vor der WM 2014: Rio de Janeiro will jene Armutsviertel zurückerobern, die von den Drogenbossen kontrolliert werden. Eines ist so gefährlich, dass es "Gazastreifen" genannt wird.
Panzer, Brasilien
© picture-alliance/dpaUm die Drogenbanden in den brasilianischen Favelas zu entmachten, rückt das Militär mit Panzern an.
Wie Eroberer hissen die Soldaten die brasilianische Flagge - im Blick eine Mischung aus Stolz und Erleichterung. Ob der Tag so ausgehen würde, war am Morgen keineswegs sicher gewesen. Die Männer hatten Barrikaden in die Luft gesprengt, sie waren mit Panzern über Geröll und Holzstapel gerollt, um sich den Weg in die verwinkelten Gassen zu erkämpfen.

Die Armee als Besetzer im eigenen Land

Für heute jedenfalls ist Ruhe eingekehrt, die Bewohner haben sich zwischen alten Klettergerüsten eines Kinderspielplatzes versammelt. Familien schauen aus den Fenstern der kastenförmigen Ziegelbauten und starren auf die Soldaten und Polizisten, die der Zeremonie beiwohnen. Die brasilianischen Sicherheitskräfte sind gerade dabei, die Favelas Manguinhos und Jacarezinho zu erobern, zwei Armenviertel im Norden Rio de Janeiros.

Hier haben Crackabhängige kleine Zeltstädte erbaut und rivalisierende Drogenbanden verteidigen ihr Terrain brutal. Im Vorfeld der Fußball-WM im Jahr 2014 und der Olympischen Sommerspiele 2016 möchte der Staat die Favelas zurückerobern, die jahrzehntelang von Drogenbanden kontrolliert worden sind.

Mehr als 1000 Favelas existieren in Rio de Janeiro, knapp 1,7 Millionen Menschen wohnen dort. Etwa 150 Armenviertel möchte der Staat besetzen, um die Stadt sicherer zu machen, auch für die Touristen.

Weil es so gefährlich ist, heißt das Gebiet "Gazastreifen"

Die Avenida Brasil verläuft entlang der Grenzen der Favela Manguinhos, sie ist eine der Straßen, die zum internationalen Flughafen Galeão führt. Parallel verläuft die Schnellstraße, die die beiden Favelas Manguinhos und Jacarezinho trennt: "Gazastreifen" nennen die Anwohner das Gebiet, weil es hier so gefährlich ist. Die Gewalt der gegnerischen Drogenbanden eskaliert hier besonders schnell.

Schießereien auf offener Straße sind keine Seltenheit. Die Kinder aus der Favela Manguinhos sind den Anblick von Maschinengewehren gewohnt, die Mitglieder der Drogenbanden fahren bewaffnet auf ihren Mopeds durch die Straßen. Aufmerksamkeit erregt hier viel mehr das plötzliche Erscheinen von Staatsvertretern an einem Ort, der von Dreck und Armut strotzt.

Autobahn durch ein Ziegelmeer

Die meisten Häuser hier sind von ihren Bewohnern selbst gebaut worden, die Ziegel wie Legosteine aufeinander geschichtet. Dazwischen Gassen, durch die keine Autos passen. Kinder laufen durcheinander, es riecht nach Essen und sauberer Wäsche.

Auf den großen Straßen, die die Ansammlung von Ziegelbauten durchschneiden, bringen Busse die Favela-Bewohner zur Arbeit und Geländewagen die Gutverdiener aus Rio heraus. Entlang der Straßen zieren Graffiti im brasilianischen Stil die Wände, feine schwarze Buchstabenreihen.

Drogenabhänge inhalieren im Schutz der Mauern Crack

Die Favela Jacarezinho grenzt an eine überirdische U-Bahnlinie, an deren Gleisen entlang Drogenabhängige ihr Crack inhalieren. Mit Feuerzeug und Plastikbechern kauern sie sich an die Mauern. Müll säumt den Boden, der mal sandig, mal asphaltiert ist. Die Stadtreinigung wird es nicht leicht haben, wenn sie ihren Dienst hier wieder aufnimmt.

Gegen fünf Uhr morgens waren die Panzer an diesem Sonntag angerückt, um Ordnung zu schaffen im brasilianischen Gazastreifen. 2000 Mann, darunter schwer bewaffnete Soldaten und Sondereinsatzkommandos der Polizei. Ihre gepanzerten Fahrzeuge rollten durch die leeren Straßen.

Drogenbosse hatten Barrieren errichtet

Die Drogenbosse hatten versucht, den Einmarsch der Soldaten und Polizisten zu verhindern. Meterlange Eisenträger waren in die Straße gerammt worden, schweres Geröll vor die Eingänge der Favelas gekippt. Aber die Polizei räumte die Barrieren mit Hilfe von Baggern weg. Die Soldaten streiften mit Maschinengewehren im Anschlag durch die Gassen der Favelas. Zwar fielen vereinzelt Schüsse, aber bei der Besetzung selbst wurde niemand verletzt.

Bei einer früheren Besetzung im November 2010, der ersten großen Operation im Complexo do Alemão, waren noch mehr als 30 Menschen gestorben. Die Polizei zog aus diesem Einsatz ihre Lehren, fortan kündigte man Besetzungen an. "Eine erfolgreiche Strategie", sagt Alberto Pinheiro Neto, Chef der Operationen der Polizei Rio de Janeiros. Zwar räumen diese Ankündigungen den Drogenbossen Vorteile ein, weil sie sich in andere Favelas flüchten können - aber immerhin ist die unbeteiligte Bevölkerung so besser geschützt.

Die Polizeistrategie überzeugt die Bewohner nicht

Die Bewohner der Favelas sehen das Vorgehen zwiespältig. "Was für eine Idiotie ist das denn, die Besetzung anzukündigen? Ist doch klar, dass dann alle Gangster abhauen", kritisierte einer. Tatsächlich aber beginnt die Polizei Tage vor einer Rückeroberung die Umgebung der Favela zu kontrollieren. So ging den Beamten im November 2011 der Drogenboss der Rocinha, Antônio Francisco Bonfim Lopes ins Netz. Seine Fluchthelfer versuchten, ihn mit einer Million Reais, umgerechnet rund 400 000 Euro, freizukaufen. Doch die Beamten ließen sich nicht bestechen.

Auch bei der jetzigen Besetzung der Favelas Manguinhos und Jacarezinho ist die Strategie der Ankündigung aufgegangen. Die Bevölkerung konnte Schutz suchen vor den Schüssen der Drogenbosse und den Querschlägern der Polizei.

Die Beute der Einsätze ist geringer

Jetzt nehmen die Sicherheitskräfte bei den Besetzungen zwar seltener Drogengangster fest, aber immerhin können sie deren Drogen, Waffen und Elektronik konfiszieren. Am ersten Tag der Operation im Manguinhos präsentieren die Polizisten ihre Fundstücke: Zehn Kilogramm Kokainpaste, 40 Kilogramm fertiges Kokain, Marihuana und Waffen.

"Die Zeiten, in denen wir einen Gazastreifen hatten, sind nun vorbei", sagt José Beltrame, Chef der Sicherheitsbehörde. Wenige Stunden nach der Einnahme kündigte Sérgio Cabral, der Governeur des Bundesstaates Rio de Janeiro, die Einrichtung zweier Posten der Friedenspolizei an. Sie sollen das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen und staatliche Strukturen aufbauen. In Rio de Janeiro gibt es bereits 28 solcher Friedenspolizeieinheiten.

Die Polizei hat kein leichtes Spiel

Nach der Besetzung möchte kaum ein Bewohner die Polizeiaktion kommentieren. Zu groß ist das Misstrauen gegenüber dem Staat, der die Armenviertel Jahrzehnte lang vernachlässigt hat. Zu oft traten Polizisten brutal gegenüber Favelabewohnern auf oder erwiesen sich als korrupt.

Tatsächlich verlassen die Drogenbanden die Favelas nicht, nur weil die Polizei die Bosse festnimmt. Die kriminellen Gruppen greifen auf ihren Nachwuchs zurück und formieren sich neu. Für Jugendliche ist der Einstieg ins Drogengeschäft reizvoll: Es locken Geld, Waffen und Frauen. Häufig ist eine Karriere als Bandenmitglied die einzige Möglichkeit für sie, gesellschaftlich aufzusteigen.

Der Job als Bandenmitglied ist einträglich

Der Lohn muss zu Beginn gar nicht Bares sein: Neue Markenkleidung, ein paar Turnschuhe oder ein teures Handy steigern das Ansehen. Die Bezahlung für ständige Dienste liegt bei umgerechnet knapp 300 Euro und steigt mit der Position. Die Chefs hantieren mit Millionen, leben in großen Häusern mit Swimmingpool und Terrasse, beschenken Kinder und Frauen mit Luxuswaren.

Die Favelabewohner fürchten, dass nach der Besetzung durch die Polizei Milizen die Drogenbanden ablösen. Organisierte kriminelle Gruppen aus ehemaligen Polizisten und Militärs, die ein neues System außerstaatlicher Kontrolle etablieren und besser ausgebildet und noch brutaler als die Drogengangs sind. Sie nutzen das Vakuum, das mit den Besetzungen entsteht, wollen vom Drogenhandel profitieren und Schutzgelder von den Favelabewohnern erpressen.

Die Drogenbanden bieten auch Sicherheit

"Durch die Polizei ist es fast unsicherer geworden", sagt der 49-jährige Zezinho - drei Läden seien in der Rocinha ausgeraubt worden. "Früher hätte es das nicht gegeben", sagt er. Diebstahl, Mord oder Vergewaltigungen innerhalb der Favela duldeten die Banden nicht. "Ich mag die Drogengang nicht", sagt Zezinho. "Aber das System hat funktioniert."

Im Complexo do Alemão sind die Bewohner hingegen froh, dass die Polizei eingerückt ist. "Früher waren wir hier nur für die höchste Kriminalitätsrate in ganz Rio bekannt", sagt die 56-jährige Lucia Oliviera, Vizepräsidentin der Frauenorganisation "Brasilianische Frauen in Aktion". "Heute bin ich stolz darauf, von hier zu kommen. Es hat sich viel geändert." Die Investitionsprogramme der Regierung würden ganz neue Möglichkeiten schaffen.

Doch geht es der Regierung wirklich darum, nachhaltig die Kriminalität zu bekämpfen? "Wie es nach der Weltmeisterschaft weiter geht, kann niemand wissen", sagt Oliviera. Die Drogenbanden jedenfalls haben da schon eine genauere Vorstellung. An den Häuserwänden der Favela Manguinhos haben sie ihre Botschaften an die Friedenspolizei und das Militär hinterlassen: "Die Kriminalität wird nie enden. Ihr werdet sterben."