Hannover - Die Vererbung ist an Gene gekoppelt - so steht es in allen Biologiebüchern. Doch US-Forscher Joseph H. Nadeau aus Seattle ist überzeugt, dass die Gene der Eltern und Großeltern die Merkmale nachfolgender Generationen nicht nur dann prägen, wenn sie vererbt werden, sondern auch, wenn sie nicht weitergegeben werden. Das macht das Verständnis vererbbarer Krankheitsrisiken komplizierter, schreibt das Magazin Technology Review in seiner aktuellen April-Ausgabe.

Bislang fußte die Mendelsche Vererbungslehre auf der Annahme, dass die Mischung von physiologischen Eigenschaften in jedem Individuum auf der geerbten Abfolge von Basen in seiner DNA basieren. Mit anderen Worten: Die Eigenschaften einer Person sind an ihr Erbgut gekoppelt, auch wenn Umwelteinflüsse die Ausprägung der Gene beeinflussen können. Allerdings reichen bei vielen Volkskrankheiten wie Diabetes, Herzleiden, Fettleibigkeit, Bluthochdruck oder Schizophrenie die bisher bekannten Mutationen nicht aus, um die erbliche Komponente dieser Krankheiten zu erklären.

Joseph H. Nadeau, Forschungsdirektor des "Institute for Systems Biology" in Seattle, ist überzeugt, eine Lösung für die sogenannte Missing heritability, auf Deutsch etwa "Lücke in der Vererbung" gefunden zu haben: Nach seiner Hypothese geben Eltern nicht nur DNA an ihren Nachwuchs weiter, sondern auch mit ihr verwandte Ribonukleinsäuren (RNAs). Dafür sprechen immer mehr experimentelle Ergebnisse, unter anderem eine Studie mit Mäusen, die durch eine Genmutation weiße Flecken auf Pfoten und Schwänzen aufwiesen. Wurde ihren Spermien RNA entnommen und in Mäuseembryos ohne diese Mutation injiziert, zeigten diese Tiere später ebenfalls diese Farbstörung.

Nadeaus Hypothese erschüttert das ehrwürdige Gebäude der Genetik bis in die Grundfesten. Würden die neuen Erkenntnisse auch beim Menschen gelten, müssten Mediziner die Suche nach den genetischen Ursachen von Krankheiten und die Entwicklung entsprechender Medikamente erheblich erweitern. Zudem dürfte die medizinische Interpretation von DNA-Analysen und deren Nutzung für eine Diagnose oder die Abschätzung eines Krankheitsrisikos viel schwieriger werden.