Missbrauch kann Spuren im Gehirn hinterlassen und in Genabschnitten "vererbt" werden. Das beste Mittel gegen Langzeitfolgen? Viel kuscheln
Wien/Innsbruck - Jeder kennt Stress. Menschen geraten in ihrem Leben immer wieder in Situationen, in denen sie überfordert sind und an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen. Das kann in diesem Moment sehr unangenehm sein, manchmal krankmachen, im Regelfall kann der Körper mit Momenten der Überforderung aber umgehen. Kurzzeitig werden Stresshormone ausgeschüttet, die der Körper, sobald er zur Ruhe kommt, wieder abbaut.
Anders verhält es sich, wenn Menschen - vor allem in jungen Jahren - sogenanntem Dauerstress ausgesetzt waren. "Da sprechen wir nicht davon, mal viel um die Ohren zu haben, sondern von andauerndem psychischen oder sexuellen Missbrauch, jahrelanger emotionaler Vernachlässigung oder von schwerem Mobbing", sagt der deutsche Psychiater Ulrich Tiber Egle.
Solche Erlebnisse verursachen einerseits seelische Wunden, für diese Erkenntnis muss man kein Wissenschafter sein. Was neue Ergebnisse aus der Grundlagenforschung aber auch zeigen: Traumata hinterlassen Spuren im Gehirn, sie werden über Generationen weitergegeben und können massive körperliche Auswirkungen haben - bis hin zu einem früheren Tod. Welche Folgen Missbrauch oder Ausgrenzung, eben "Dauerstresssituationen", wie die Mediziner es nennen, im Einzelfall haben, hänge dabei vor allem von einem ab: dem Alter zum Zeitpunkt der Traumatisierung.
Stresshormon "vergiftet" HirnSchuld daran ist ein Hormon namens Cortisol, das im Gehirn wie ein Zellgift wirken und je nachdem, in welchem Entwicklungsstadium sich ein gewisses Hirnareal gerade befindet, unterschiedliche Schäden anrichten kann.
"Dauerstress führt zu einem dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel im Blut", sagt Astrid Lampe, stellvertretende Leiterin der Innsbrucker Uniklinik für medizinische Psychologie. "Einmaliger Missbrauch kann für das Gehirn deshalb weniger schädlich sein als jahrelange Vernachlässigung oder massive Ausgrenzungserfahrungen wie durch Mobbing."
Egle unterscheidet zwischen vier Hirnarealen, die durch traumatische Erlebnisse nachweislich beeinträchtigt würden: der Amygdala, dem Hippocampus, dem Präfrontalcortex und einem Teil unseres limbischen Systems.
Vier BereicheDie Amygdala, unser Stressverarbeitungszentrum, werde durch ein Trauma im Erwachsenenalter beispielsweise kleiner, durch Dauerstress in der Kindheit hingegen größer. "Erwachsenen ist es dadurch schlechter möglich, Stress zu verarbeiten", sagt Egle. "
Kinder hingegen stehen dann unter permanentem Stress, was auch das vegetative Nervensystem beeinflusst und Bauch- oder Kopfweh auslösen kann."
Der Hippocampus ist sozusagen die Bibliothek unserer Sinneseindrücke. Durch ihn ist es etwa möglich, einen Geruch mit einer Erfahrung zu verknüpfen. Dadurch fungiert er als eine Art Warnsystem: Riecht es nach Rauch, bedeutet das Feuer. "
Der Hippocampus wird durch traumatische Erfahrungen kleiner, und dieses Referenzsystem ist gestört", sagt Egle.
Der Präfrontalcortex sitzt unter der Stirn, durch ihn können wir unsere Emotionen steuern. "Da er erst ab der Pubertät ausgereift ist, beeinflussen ihn nur Traumata, die nach dem zehnten Lebensjahr passieren", sagt Egle. Durch eine Schädigung in diesem Hirnareal könne man Stress nicht mehr regulieren und richtig bewerten.
Der Teil des limbischen Systems, der durch einen erhöhten Cortisolspiegel angegriffen werden kann, sei hingegen für Empathie zuständig. "Menschen mit Traumaerfahrungen können sich oft weniger in andere hineinversetzen und leiden an schnell wechselnden Gefühlszuständen", sagt Egle. Für sämtliche Schädigungen im Gehirn würde gelten:
Je später das Trauma stattfand, desto eher ist es therapierbar.
Vernetzung analysierenDie Forschung steckt hier allerdings noch in ihren Anfängen. Es ist erst seit kurzem möglich, die Vernetzungen im Gehirn zu analysieren und in Echtzeit zu verfolgen, welche Areale gerade aktiviert sind. Deshalb ist auch noch nicht lange bekannt, welche Hirnbereiche in welchem Alter durch Traumata belastet werden.
Als absolut gesichert gelte, sagen Egle wie auch Lampe, dass Traumata zu Schlafstörungen führen können, Menschen mit Dauerstresserfahrungen bei normaler Kalorienzufuhr zu stärkerer Gewichtszunahme neigen und durch das erhöhte Risiko für Diabetes, Adipositas und Schlaganfälle eine um bis zu zwanzig Jahre kürzere Lebenserwartung haben.
"Deshalb muss man gegensteuern, denn es gibt zahlreiche Faktoren, die Menschen vor diesen negativen Auswirkungen schützen", sagt Lampe. Nicht jedes Missbrauchsopfer leide an Langzeitfolgen, und selbst massiver Dauerstress müsse das Gehirn nicht zwangsläufig schädigen. So banal es klingt: Eines der besten Schutzmittel sei Kuscheln.
Denn das sogenannte
Kuschelhormon Oxytocin ist quasi das Gegengift von Cortisol. Hat ein Kind in den ersten Lebensjahren keine "fürsorgliche Hauptbezugsperson" - die nicht zwangsläufig die Mutter sein müsse -, schraubt das Gehirn die Herstellung von Oxytocin zurück. Ausreichend Oxytocin schafft aber "Andockstellen" für Cortisol und verhindert damit, dass es in das Gehirn gelangt - und dort womöglich Schäden anrichtet.
Kuscheln schütztDurch "Kuscheln und Fellpflege", wie Egle sagt, werde ein gewisser Genabschnitt eingeschaltet, der einerseits für die Bindungsfähigkeit, andererseits aber auch für die Stressresistenz zuständig ist. Dadurch wird ein Oxytocinmangel "vererbt", sagt Egle.
Es gebe aber auch noch andere Schutzfaktoren, unabhängig davon, wie man aufgewachsen ist: "Durch einen verständnisvollen Partner und ein gesundes soziales Netzwerk kann man vieles wiedergutmachen", sagt Lampe. Darüber hinaus gebe es drei von der Natur vorgegebene Eigenschaften, die stressresistent machen: überdurchschnittliche Intelligenz, ein lebhaftes Temperament und - ein Mädchen zu sein.
"Wir wissen nicht, warum, aber Frauen können mit erlebten Dauerstresssituationen besser umgehen", sagt Egle. Am "schlechtesten dran" seien deshalb durchschnittlich intelligente, introvertierte Jungen. "Die müssen wir in Watte packen."
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