Ankaras geplante Verfassungsänderung entmachtet das Parlament und ebnet Erdogans Weg zur Alleinherrschaft. Europa muss trotz des Flüchtlingsdeals auf den vereinbarten Standards bestehen.
Erdogan
© Screenshot
Zurückhaltung war noch nie die Sache des Recep Tayyip Erdogan. Doch seit die Europäer, und zuvorderst Bundeskanzlerin Angela Merkel, in der Flüchtlingskrise auf ihn angewiesen sind, gibt der türkische Staatspräsident jegliches Bemühen auf, sein Land in demokratischem Lichte erscheinen zu lassen.

Nun also holt der Alleinherrscher in spe ganz ungeniert zum Schlag gegen kurdische Politiker im türkischen Parlament aus. Wenn alles so kommt, wie der Mann mit dem ewigen Schnauzbart es sich vorstellt, dann stimmt das türkische Parlament am Freitag einer Aufhebung der Immunität jener Abgeordneten zu, gegen die Strafermittlungen laufen.

Von dieser Verfassungsänderung betroffen wären vor allem Politiker der Kurdenpartei HDP. Bei rechtskräftigen Verurteilungen wäre die türkische Regierung so auf einen Schlag 50 der insgesamt 59 lästigen Abgeordneten los, die es wagen, den Staatspräsidenten trotz aller unverhohlenen Drohungen weiterhin zu kritisieren.

Die Opposition wird zum Schweigen gebracht

Geht die Verfassungsänderung durch, so wäre die letzte ernst zu nehmende Oppositionsstimme in der Türkei zum Schweigen gebracht. Die Rolle des Parlaments als Ort der Debatte und Kontrolle wäre ausgehebelt, die Gewaltenteilung aufgehoben. Und genau um Letzteres geht es Erdogan - er duldet keine Einmischung, er verbittet sich Kritik, er will schlicht seine Macht nicht teilen.

Wie also sollten die Europäer auf dieses Ermächtigungsgesetz reagieren, so es denn tatsächlich kommt? Wollen Merkel und Co. einen letzten Rest Glaubwürdigkeit bewahren, müssen sie es Erdogan gleich tun und ihre Zurückhaltung aufgeben. Die Empörung von 70 Europaparlamentariern allein reicht nicht.

Die EU mag aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Flüchtlingsdeal geringen Handlungsspielraum im Umgang mit Ankara haben. Doch sie muss wenigstens darauf bestehen, dass die vereinbarten Bedingungen Bestand haben und nicht neu verhandelt werden. Ansonsten wird die Verfassungsreform nicht die letzte diktatorische Kröte gewesen sein, die Erdogan den Europäern zu schlucken gibt.