consumer culture; Konsumgesellschaft, demoralization
© Robin Heighway-Bury/Alamy
Die westliche Verbraucherkultur erzeugt eine geistig-seelische Krise, welche uns orientierungs- und ziellos zurücklässt. Wie können wir mit unserer kranken Kultur umgehen und uns dabei auch selbst gesund machen?

Unser Abstieg in die Ära der Depression scheint unaufhaltsam. Vor drei Jahrzehnten lag das Durchschnittsalter für das erste Auftreten einer Depression bei 30 Jahren. Heute sind es 14 Jahre. Forscher wie Stephen Izard von der Duke University weisen darauf hin, dass die Rate der Depression in westlichen Industrie-Gesellschaften sich mit jeder nachfolgenden Generationskohorte verdoppelt. Bei dieser Geschwindigkeit werden über 50 Prozent unserer jüngeren Generation, jetzt 18-29 Jahre alt, ihr im mittleren Alter erliegen. Wenn wir eine Generation weiter hochrechnen, kommen wir zu dem düsteren Ergebnis, dass nahezu jeder der Depression zum Opfer fallen wird.

Im Gegensatz zu vielen traditionellen Kulturen, die Depression überhaupt nicht kennen bzw. nicht einmal ein Wort dafür haben, ist die westliche Verbraucherkultur mit Sicherheit anfällig dafür. Aber Depression ist so sehr Teil unseres Wortschatzes, dass das Wort selbst dafür verwendet wird, psychische Zustände zu beschreiben, welche anders verstanden werden sollten. Wenn Menschen mit einer Diagnose für Depression tatsächlich genauer untersucht werden, würde die Diagnose nicht wirklich auf die Mehrzahl von ihnen passen. In der größten Studie dieser Art untersuchte Ramin Mojtabai von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health über 5.600 Fälle und fand heraus, dass nur 38 Prozent von ihnen die Kriterien für eine Depression erfüllten.

Zu der Verwirrung trägt die ebenso heimtückische Epidemie der Demoralisierung bei, welche die moderne Kultur ebenfalls heimsucht. Da sie einige Symptome mit Depression gemein hat, neigen wir dazu, Demoralisierung falsch zu bezeichnen und so zu behandeln, als wäre sie eine Depression. Ein Hauptgrund für die dürftige Erfolgsrate von 28 Prozent bei Antidepressiva ist, dass ein hoher Prozentsatz an Fällen von "Depression" in Wahrheit demoralisiert sind - ein Zustand, der nicht auf Medikamente anspricht.

Existenzielle Störung

In der Vergangenheit war unser Verständnis von Demoralisierung auf einige spezielle extreme Situationen begrenzt, wie lähmende Verletzungen, Krankheiten im Endstadium, Kriegsgefangenenlager oder anti-moralische Militärtaktiken. Aber es gibt eine kulturelle Abart, welche sich subtiler äußern kann und sich hinter den Kulissen des normalen täglichen Lebens unter pathologischen kulturellen Bedingungen entwickelt, wie wir sie heute haben. Diese von der Kultur hervorgebrachte Demoralisierung ist für den modernen "Konsumenten" nahezu unmöglich vermeidbar.

Anders als eine depressive Erkrankung ist Demoralisierung eine Art von existenzieller Störung, die mit dem Zusammenbruch der "kognitiven Landkarte" einer Person verbunden ist. Es ist eine allumfassende geistig-seelische Krise, in welcher das Opfer sich allgemein verwirrt und außerstande fühlt, Sinn, Zweck oder Erfüllung seiner Bedürfnisse zu finden. Die Welt verliert ihre Glaubwürdigkeit, und frühere Vorstellungen und Überzeugungen lösen sich in Zweifel, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit auf. Enttäuschung, Ärger und Verbitterung sind häufige Begleiterscheinungen, ebenso wie das unterschwellige Gefühl, ein hoffnungsloser Fall zu sein oder auf verlorenem Posten zu stehen. Die Bezeichnung "existenzielle Depression" ist nicht passend, da anders als bei den meisten Formen von Depression Demoralisierung eine wirklichkeitsnahe Antwort auf die Umstände ist, die in das Leben der Person eingreifen.

Sobald man sich an die Konsumgesellschaft bindet, übt diese vielfache Einflüsse aus: die Persönlichkeitsstruktur wird geschwächt, die Fähigkeit zur Bewältigung wird untergraben und dies legt den Grundstein für die letztendliche Demoralisierung. Ihre antreibenden Merkmale - Individualismus, Materialismus, Hyper-Wettbewerb, Geiz, Überfrachtung, Überarbeitung, Gehetztheit und Schulden - korrelieren alle negativ mit psychologischer Gesundheit und/oder sozialem Wohlbefinden. Das Niveau von Intimität, Vertrauen und echter Freundschaft im Leben der Menschen ist drastisch gesunken. Die Quellen der Weisheit, der sozialen und gemeinschaftlichen Unterstützung, des spirituellen Trostes, intellektuellen Wachstums und der Schulung über das Leben sind ausgetrocknet. Passivität und Auswahl haben Kreativität und Meisterschaft abgelöst. Merkmale von Resilienz wie Geduld, Zurückhaltung und innere Stärke sind kurzen Aufmerksamkeitsspannen, übermäßigem Genuss und einer masturbatorischen Herangehensweise an das Leben gewichen.

Forschungen zeigen, dass im Gegensatz zu früheren Zeiten die meisten Menschen heutzutage unfähig sind, auch nur irgendeine Art von Lebensphilosophie oder eine Form von Leitbildern [für sich] zu identifizieren. Ohne einen existenziellen Kompass wird der Verstand von einer, wie Noam Chomsky sie nennt, "Philosophie der Sinnlosigkeit" angezogen, in der die Menschen sich hinter ihrer konditionierten Rolle als biegsame Konsumenten jeder Kraft und Bedeutung entledigt fühlen. Indem es ihnen an Substanz und Tiefe fehlt, sie haltlos gegenüber anderen und sich selbst sind, ist das dünne und fragile Konsum-Selbst leicht zu fragmentieren und zu entmutigen.

Die zentralen organisierenden Prinzipien und Praktiken der Konsumgesellschaft sind a priori so angelegt, dass sie ein "existenzielles Vakuum" fortbestehen lassen, das ein Vorbote zur Demoralisierung ist. Diese innere Leere wird oft als chronische und unausweichliche Langeweile erlebt, was nicht überraschend ist. Im Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung ist das Konsumzeitalter tödlich langweilig. Die Langeweile wird nicht verursacht, weil die Aktivität an sich grundsätzlich langweilig wäre, sondern weil sie für die Person bedeutungslos ist. Da sich das Leben des Konsumenten um das Übermaß an bedeutungslosen, fabrizierten, niedrig angesiedelten materiellen Begehren dreht, wird dieses schnell von Langeweile umhüllt sowie von Ermattung, Ennui und Unzufriedenheit. Dies setzt sich fort bis zu "existenzieller Langeweile", wo die Person das ganze Leben als belanglos und unbefriedigend empfindet.

Moralisches Netz

Der Konsum selbst ist eine fehlerhafte motivierende Basis für eine Gesellschaft. Wiederholter Konsum von Begierden ohne mäßigende Einschränkungen dient einzig dazu, die Menschen daran zu gewöhnen und das zukünftige Befriedigungspotential über das, was konsumiert wurde, zu verringern. Dies entwickelt sich schrittweise in eine "Konsumenten Anhedonie", wo das Konsumieren die Funktion der Belohnung verliert und nun nicht mehr als eine Ablenkung und einen rituellen Wert anbietet. Konsumerismus und psychische Leblosigkeit sind unerbittliche Bettgenossen.

Individualistische Modelle von Geist und Seele haben unser Verständnis vieler Krankheiten außer Kraft gesetzt, welche in erster Line einen kulturellen Ursprung haben. In den letzten Jahren wurde ein wachsendes Interesse an den Themen kulturelle Gesundheit und Krankmacher deutlich, und wie sie das allgemeine Wohlbefinden beeinflussen. Gleichzeitig bewegen wir uns von den naiven Verhaltensmodellen weg und kehren zu der offensichtlichen Tatsache zurück, dass der Mensch eine grundlegende Natur sowie einen eigenen Satz menschlicher Bedürfnisse hat, die durch einen kulturellen Entwurf angegangen werden müssen.

In seinem wegweisendem Buch The Moral Order verwendete der Anthropologe Raoul Naroll den Begriff "moralisches Netz", um die kulturelle Infrastruktur zu bezeichnen, die für das psychische Wohlergehen seiner Mitglieder benötigt wird. Er verwendete zahlreiche Beispiele um aufzuzeigen, dass ganze Gesellschaften für ein ziemliches Spektrum psychischer Erkrankungen empfänglich werden können, wenn ihr "moralisches Netz" über einen gewissen Punkt hinaus verfällt. Um dies zu vermeiden muss das moralische Netz einer Gesellschaft imstande sein, die wichtigsten psycho-sozial-spirituellen Bedürfnisse seiner Mitglieder zu erfüllen, einschließlich eines Sinns für Identität und Zugehörigkeit, gemeinschaftliche Aktivitäten, die Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenschweissen, sowie gemeinschaftliche Rituale und Überzeugungen, die eine überzeugende existenzielle Orientierung bieten.
Eine kulturelle Revolution, die eine radikale Umgestaltung des politischen Prozesses, der Wirtschafts-, Arbeits-, Familien- und Umweltpolitik erzwingen würde, ist schon längst überfällig.
Gleichermaßen zitierte Erich Fromm in The Sane Society (Wege aus einer kranken Gesellschaft, AdÜ) den "Orientierungsrahmen" als eines unserer grundlegendsten "existenziellen Bedürfnisse". Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die heutigen "Marketing Charaktere" durch ein kulturelles Programm gefesselt sind, welche die Erfüllung dieses und anderer Bedürfnisse aktiv blockiert; einschließlich dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Verwurzelung, Identität, Transzendenz und intellektueller Stimulation. Wir leben unter Bedingungen des "kulturellen Wahnsinns", eine Bezeichnung, die sich auf eine pathologische Diskrepanz zwischen den Inkulturationsstrategien einer Kultur und den intrapsychischen Bedürfnissen ihrer Anhänger bezieht. Normal zu sein ist keine gesunde Ambition mehr.

Die menschliche Kultur ist zu einer soziopathischen Marketing-Maschinerie mutiert, welche durch wirtschaftliche Prioritäten und psychologische Manipulation beherrscht wird. Niemals zuvor hat ein kulturelles System seinen Anhängern eingeimpft, so viel von ihrer Menschlichkeit zu unterdrücken. Diese feindselige Übernahme der kollektiven Psyche wird durch die zunehmend ausgefeiltere Propaganda- und Desinformationsindustrie angeführt, welche die Illusion des Konsumentenglücks verkauft, indem sie unsere Erwartungen an die materielle Welt maßlos verstärkt. Die heutigen Konsumenten sind bei Weitem die am meisten durch Propaganda manipulierten Menschen in der Geschichte. Der unnachgiebige und wiederholende Einfluss ist höchst hypnotisch, er verringert die Kritikfähigkeit, das Selbstwertgefühl, und transformiert die kommerzielle Unwirklichkeit zu einem Ersatz für den fehlenden Sinn und Zweck.

Je verlorener, desorientierter und spirituell ausgelaugter die Menschen werden, desto anfälliger werden sie für Einflüsterungen und desto mehr werden sie die überverkauften Erwartungen an den Konsum übernehmen. Doch in der Kultur der Unwirklichkeit kollidieren die übermäßig aufgeblähten Erwartungen fortwährend mit der Realität der Erfahrung. Da nichts in der Realität dem Hype gerecht wird, ist die Welt des Konsums tatsächlich das fortwährende Erleben von Enttäuschung. Obwohl die meisten Enttäuschungen gering sind und leicht durch Dissoziation wegschiebbar, summieren sie sich doch zu einem emotionalen Hintergrund von Frustration, während die tieferen menschlichen Bedürfnisse vernachlässigt werden. Fortwährendes Aushungern jener Bedürfnisse nährt die Desillusionierung über die gesamte Herangehensweise an das Leben. Mit der Zeit können die grundlegenden Anschauungen der Menschen instabil werden.

Kulturelle Beständigkeit herstellen

In seinem Kern handelt es sich bei Demoralisierung um einen verallgemeinerten Verlust an Glaubwürdigkeit jener Annahmen, die unsere Existenz begründen und unser Handeln leiten. Die Annahmen, die unsere Ergebenheit an den Konsumerismus stützen, sind besonders anfällig, da sie im Wesentlichen entmenschlichend sind. Wenn sie sich entwirren, wird es zunehmend schwieriger, sich mit den Werten, Zielen und Ansprüchen zu identifizieren, die einst Teil unserer Konsumenten-Wirklichkeit gewesen sind. Das daraus folgende Gefühl, verlassen zu sein und sich auf dem falschen Lebenspfad zu befinden wird leicht mit Depression oder gar Unglücklichsein verwechselt, ist aber tatsächlich eine Form der Demoralisierung, welche die meisten Verbraucher bis zu einem gewissen Grad erfahren werden.

Für die jüngere Generation ist der Lauf von Langeweile, Enttäuschung, Desillusionierung und Demoralisierung beinahe unvermeidbar. Als Produkte unsichtbarer Eltern, kommerzialisierter Bildung, Marketing von der Wiege bis zur Bahre und eines abgrundtief langweilenden und schwachsinnigen kulturellen Programms müssen auch sie sich in die Konsumenten-Kultur einfügen, von Anfang an wissend, dass deren Tätigkeiten den Planeten zerstört und ihre Zukunft aufs Spiel setzt. Verständlicherweise sind sie zur Trance-Generation geworden, mit einem unstillbaren Appetit für jegliche Technologie, die Bewusstheit reduzieren und die Gefühle abstumpfen lassen kann. Während sich die Gesellschaft in einer existentiellen Krise befindet, und das emotionale Leben auf einer steilen Bahn nach unten, ist Trance heutzutage der am schnellsten wachsende Verbrauchermarkt.

Wenn unsere kollabierten Anschauungen erst einmal den Weg für Demoralisierung freigeben, wird das Problem darin bestehen, wie wir die unbewussten Grundlagen unseres Lebens wieder errichten können. In ihrer gegenwärtigen Form sind die psychologischen und psychiatrischen Berufszweige kaum von Nutzen für die Behandlung von Störungen, die tief in Kultur und Normalität verwurzelt sind. Individuelle Therapie kann nicht damit beginnen, eine demoralisierte Gesellschaft zu heilen. Damit sie effektiv sind, müssen solche Ansätze erkenntnis-orientiert und auf die kulturellen Ursachen der Annahmen einer Person, ihrer Identität, Werten und Mittelpunkt der Sinngebung gerichtet sein. Essentiell sind neben der Herstellung einer beständigen Kultur die kulturelle Deprogrammierung, das Training von Ungehorsam und Strategien zur Charakterentwicklung, die allesamt darauf abzielen, eine Weltsicht aufzubauen, welche die Person mehr mit sich selbst, anderen und der normalen Welt verbindet.

Die wirkliche Aufgabe besteht irgendwie darin, eher die kranke Kultur zu behandeln als ihre kranken Individuen. Erich Fromm fasst diese Herausforderung zusammen: "Wir können Menschen nicht geistig gesund machen, indem wir sie an diese Gesellschaft anpassen. Wir brauchen eine Gesellschaft, die den Bedürfnissen der Menschen angepasst ist." Fromms Lösung schloss einen Höchsten Kulturrat ein, der als kultureller Aufseher fungieren und Regierungen zu fehlerbehebenden und präventiven Maßnahmen beraten sollte. Doch diese Art von Lösung liegt noch in weiter Ferne, ebenso wie eine Wissenschaft kulturellen Wandels. Demokratie in ihrer gegenwärtigen Gestalt ist ein Wächter kulturellen Wahnsinns.

Eine kulturelle Revolution, die eine radikale Umgestaltung der politischen Prozesse, der Wirschaft, Arbeit, Familie und Umweltschutzpolitik erzwingt, ist für uns schon längst überfällig. Es ist wahr, dass es unwahrscheinlich ist, dass eine Gesellschaft demoralisierter Menschen aufbegehren wird, obwohl sie auf einem gewaltigen Pulverfass aufgestauter Frustration sitzt. Doch Glaubwürdigkeit wirkt Demoralisierung entgegen, und diese Frustration kann mit immenser Energie freigesetzt werden, sobald ein glaubhafter Grund, oder eine verlässliche Führung ins Spiel gebracht werden.

Es mag scheinen, dass Glaubwürdigkeit, Sinn und entschlossenes Handeln von den vielfältigen Bedrohungen für unsere Sicherheit und unser Überleben abgeleitet würden, die durch die tödliche Diskrepanz zwischen Verbraucher-Kultur und den Bedürfnissen des Planeten dargestellt werden. Die Tatsache, dass dem nicht so ist, hebt den Grad der Demoralisierung hervor, die unser Konsumentenzeitalter infiziert. Angesichts der fest verwurzelten Infrastruktur und mit nur minimalen Anzeichen kollektiven Widerstands deuten alle Zeichen darauf hin, dass unser überholtes System - welches einige als 'Katastrophen-Kapitalismus' bezeichnen - weiterhin die Oberhand haben wird, bis eine globale Katastrophe uns neue kulturelle Ausrichtungen diktiert.

Übersetzung: de.sott - Originalartikel hier