Das Netz ist die beste Gerüchteküche: Das zeigt sich auch anhand der Flüchtlingskrise. Unzählige Meldungen über Straftaten kursieren im Internet. Sie wieder einzufangen, wenn sie erst einmal in der Welt sind: Nahezu unmöglich. Eine junge Leipzigerin versucht es mit ihrem Projekt "Hoaxmap" trotzdem.

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© Hoaxmap
In Heidelberg musste angeblich eine Lidl-Filiale schließen - zu groß sei der Schaden durch Diebstahl, begangen von Flüchtlingen, gewesen. In Kleve sollen Mädchen im Alter von acht bis zehn Jahren entführt und vergewaltigt worden sein - von Flüchtlingen. In Wertheim nahe Würzburg sollen sich Menschen vor Autos geworfen haben, um die Entschädigung durch die Versicherung zu kassieren - angeblich ebenfalls Flüchtlinge.

Seit Monaten kursieren immer mehr solcher Meldungen im Netz und die meisten von ihnen haben mit den drei genannten eines gemeinsam: Sie sind nicht wahr. Nur Gerüchte, entstanden aus Angst und Sorge, aber auch verbreitet und hochgeputscht durch fremdenfeindliche Organisationen und Gruppierungen.


Nur wie soll man erkennen, welche dieser Nachrichten nur falsche Behauptungen sind und welche zutreffen? Denn es lässt sich nicht abstreiten - unter den mehr als eine Million Menschen, die nach Deutschland eingereist sind, befinden sich auch Kriminelle. Es werden Straftaten von Flüchtlingen begangen. Allerdings bei Weitem nicht in dem erschreckenden Ausmaß, wie es vor allem im Internet in Foren und sozialen Netzwerken gezeichnet wird.


Kommentar: Wie in jeder gesellschaftlichen Gruppierung befinden sich natürlich auch Verbrecher unter den Flüchtlingen, dass ist in der deutschen Bevölkerung nicht anders.


Auch Karolin Schwarz hat solche Gerüchte gehört - während ihrer Arbeit in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge etwa. Von August bis Ende 2015 hat sie sich dort engagiert. Aber auch im Freundeskreis und in der Familie wurde darüber gesprochen. Dass Flüchtlinge ein Kind vergewaltigt haben sollen, dass sie einen Leipziger Supermarkt "ausgeräumt" hätten. Mittlerweile höre man so etwas ja "an jeder virtuellen und realen Straßenecke", sagt die 30-Jährige.

"Hoaxmap" wird über Twitter mit Hinweisen gefüttert

Um "dieser Masse an Geschichten" entgegenzuwirken, kam der jungen Frau eine Idee, die sie gemeinsam mit einem Freund umsetzte. Gemeinsam trugen sie Medienberichte zusammen, die die Gerüchte über angeblich von Flüchtlingen und Ausländern begangene Straftaten widerlegen. Hinweise erhält das Duo über Twitter: Nutzer aus ganz Deutschland schicken Tipps und Links zu entsprechenden Artikeln und Veröffentlichungen.


Etwa 170 solcher Widerlegungen sammelte Schwarz, bis schließlich am 8. Februar "Hoaxmap" online ging: Eine virtuelle Deutschlandkarte, auf der verortet ist, wo etwas passiert sein soll und passend dazu die Gegendarstellungen. So kann jeder Nutzer auch direkt in seiner Region nach solchen "Hoaxs", also Falschmeldungen suchen.

Inzwischen sind dort mehr als 200 solcher Fälle aufgelistet. "Mit dieser großen Resonanz habe ich gar nicht gerechnet" sagt sie. Das positive Feedback aus dem Netz freut sie natürlich - aber es bedeutet auch Arbeit. In "Hoaxmap" investieren sie und ihr Freund ihre Freizeit, nach der Arbeit geht es oft an den Schreibtisch, um die neuen Hinweise durchzugehen und in die Karte von Falschmeldungen zu integrieren.


Kommentar: Das ist eine sehr ehrenvolle und wichtige Arbeit, die die beiden verrichten.


Die meisten Gerüchte über Raub und Vergewaltigung

Am häufigsten tauchen dabei Meldungen über angebliche Diebstähle und Überfälle auf, gefolgt von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen. Eine Entwicklung die auch Ulf Küch bestätigen kann. Der 58-Jährige arbeitet seit mehr als 40 Jahren bei der Kriminalpolizei in Braunschweig, seit 2008 leitet er die Kripo. Im vergangenen Jahr gründete Küch die Sonderkommission "Zentrale Ermittlungen", kurz Soko "Zerm". Sie erfasst von Flüchtlingen verübte Straftaten und ist bundesweit ein Vorreitermodell. Mittlerweile gehören ihr 13 Polizeibeamte an.

Auch in Braunschweig zeigten sich die Auswirkungen der Flüchtlingskrise. In einer Erstaufnahmestelle kamen immer mehr Asylsuchende an - seit Anfang 2015 durchliefen rund 40.000 Flüchtlinge die Einrichtung. Mit ihrer Zahl nahmen auch die Gerüchte zu und die Stimmung kippte zusehends. "Natürlich gab es einen Anstieg an Straftaten: von Raubüberfällen oder Einbrüchen", sagt Küch. Auch sexuelle Straftaten habe es gegeben.

Doch es waren die Taten von Wenigen, die durch falsche Behauptungen auf alle Flüchtlinge abfärbten. Es sei zu erwarten gewesen, dass unter mehr als einer Million Menschen, die nach Deutschland kommen, auch Kriminelle sind, sagt Küch. "Das ist nicht schön, aber das ist normal. Kriminalität kann man nicht vollständig ausmerzen."

Von den 40.000 waren es 150 Flüchtlinge, die die Polizei wegen Straftaten überführte. Meistens handelte es sich um Wiederholungstäter, die sich mindestens dreimal eines Deliktes schuldig machten. Hinzu käme laut Küch auch eine Dunkelziffer von der Polizei unbekannten Tätern.

Buch Soko Asyl zeigt Polizeiarbeit auf

Die bisherigen Ergebnisse von Küchs Sonderkommission "Zerm" sind eindeutig: Von einem spürbaren Anstieg der Kriminalität durch die Flüchtlingskrise könne keine Rede sein, führt Küch an. Die Rate stieg in Braunschweig um gerade einmal ein Prozent. Über die Arbeit der Einsatztruppe schrieb der Leiter sogar ein Buch - im Januar erschien Soko Asyl - Eine Sonderkommission offenbart überraschende Wahrheiten über Flüchtlingskriminalität. Auf den 224 Seiten stellt sich Küch auch klar gegen die Gerüchteküche rund um die Flüchtlingskriminalität, versucht realistische Relationen aufzuzeigen.


Aussagen, die nicht jeder hören möchte und denen nicht jeder Glauben schenken will. In den Rezensionen von einigen Käufern und Lesern des Buches wird es als "ein Versuch die Flüchtlingsproblematik als nicht existent zu manifestieren, und alle Erfahrungen der deutschen Bevölkerung als Vorurteile Ewiggestriger zu verhöhnen" bezeichnet. Küch wolle "die deutsche Öffentlichkeit" gar "für dumm verkaufen".

Durch die Gerüchte - diesen Geschichten "aus dem Reich der Märchen", wie Küch es ausdrückt - seien seiner Meinung nach viele Menschen nicht nur massiv verunsichert worden, auch die Glaubwürdigkeit der Polizei habe gelitten. "Es ist nicht leicht, diese Glaubwürdigkeit wieder zurückzuholen", sagt Küch.


Kommentar: Und das nutzen extreme Parteien und andere Richtungen bewusst für sich aus. Psychopathen und Rädelsführer sind dabei ein wichtiger Punkt:

"Gerüchte bestätigen Ängste und Vorurteile"

"Glaubwürdigkeit" - ein Wort, dass auch in Bezug auf die Gerüchtewelle eine Rolle spielt. Im besten Fall sollte man eine Meldung nicht gleich für bare Münze nehmen, sondern auch hinterfragen. Doch viele Menschen wollen den Gerüchten glauben schenken, "sie wollen so etwas hören", sagt Sozialwissenschaftler Johannes Kiess. Denn sie fühlten sich durch die Szenarien bestätigt, da sie Ängste im Inneren - sei es vor den Folgen der Krise, vor fremden Kulturen und Mentalitäten - bedienen.

Es ist dieses bereitwillige Annehmen der Negativnachrichten, das sich vor allem rechte Gruppierungen und fremdenfeindliche Strömungen wie die Pegida-Bewegung zunutze machen. Sie greifen die Gerüchte auf oder setzen sie sogar selbst in die Welt - so formuliert, dass laut Kiess ein "moralischer Aufschrei" verursacht werde.


Und je mehr das Gerücht wächst, desto mehr Dynamik gewinnt es in seiner Verbreitung im Netz und desto realistischer erscheint es. "Das funktioniert wie das System der stillen Post", erläutert Medienwissenschaftler Stephan Weichert. "Hier kommt noch ein Detail dazu, da wird noch etwas ergänzt." Und je detailreicher die Geschichte, desto überzeugender klingt sie in den Ohren der Zuhörer. Und dadurch steige die Gefahr, dass der Weg "vom Schreibtisch auf die Straße führt", sagt Weichert weiter. Dass der Protest im Netz zum Protestmarsch auf der Straße wird und schlimmstenfalls zum Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft.


Kommentar: Und Gewalttaten und Brandanschlägen gab es nicht wenige:

Ist ein Gerücht erst einmal in der Welt, ist es aus Sicht des Medienwissenschaftlers kaum wieder einzufangen. Man könne ihm nur mit einer gewissen Vorsicht begegnen und selbst versuchen, die Aussagen mithilfe von Medienberichten zu prüfen.

Oder mithilfe von "Hoaxmap". Das zumindest hofft Initiatorin Schwarz. Dass die Plattform künftig helfen wird, in der Gerüchteküche etwas mehr Durchblick zu erhalten und dass sie Nutzern eventuell auch Argumente liefert, um eine offene und vorurteilsfreie Debatte um die Flüchtlingskrise und -politik führen zu können.