Hektik? Raubt uns Lebensenergie! Anstrengung? Macht krank! Lange galt die Devise, dem Stress lieber aus dem Weg zu gehen. Nun zeichnen Forscher ein versöhnlicheres Bild: Wer dieses Monster in sein Leben lässt, kann daraus sogar Kraft schöpfen.
Stress, Burnout
© Peopleimages/GettyImagesTermine, Druck, Hektik - wie es uns gelingt, aus Belastung Kraft zu schöpfen
Wo seine Gedanken an dem Morgen hingen, weiß er nicht mehr. Vielleicht beim ersten Kaffee, den er dringend brauchte. Elke wartete schon auf ihn, sie hatten frei und wollten zum Brunch fahren. Nur noch schnell das Auto ausladen, Dachlatten und Werkzeug hinauf in die Werkstatt schaffen und dann wieder runter.

"Es war der Klassiker: noch im Halbschlaf, aber schon in Eile", erzählt Gerd Niebuhr, "ich habe auf der Treppe danebengetreten, und es traf den rechten Arm: Elle und Speiche gebrochen. Im Krankenhaus setzten sie mir eine Platte ein. Vier Monate sollte ich mich schonen. Die Ärzte wussten gar nicht, was sie da sagten." Der Handwerker ging im Kopf all die offenen Aufträge durch, Dachstühle, die über den Sommer zu bauen waren, Dächer, die gedeckt werden mussten. Als selbstständiger Zimmerer im Einmannbetrieb sah er seine Jahresplanung zusammenbrechen. "Ich bekam Herzklopfen und flatterige Hände und fragte mich, wie ich das alles schaffen sollte. 2015 war das stressigste Jahr, an das ich mich erinnern kann."

Was in einem Körper, der dermaßen unter Stress steht, geschieht, wissen Forscher recht genau: Er wird von Stresshormonen geflutet - Adrenalin beschleunigt den Puls, versetzt die Muskeln in Spannung und lässt den Schweiß rinnen. Cortisol setzt energiereichen Traubenzucker ins Blut frei und treibt den Blutdruck hoch. Ein Zustand, den die meisten Menschen nicht als hilfreich, sondern als beängstigend erleben. Stress hat die denkbar mieseste Reputation. Wir halten ihn für gefährlich, lästig, unbequem und versuchen ihn irgendwie aus unserem Leben zu verbannen. Als die DAK 1000 Erwachsene zu ihren Vorsätzen für 2016 befragte, gaben 62 Prozent an, künftig vor allem Stress vermeiden oder abbauen zu wollen. Es war der meistgenannte Wunsch. Etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr geben die Deutschen für Wellness und Entspannung aus.

Den Stress zum Freund machen

Doch Wissenschaftler gewinnen Stress zunehmend auch positive Seiten ab: Das Feindbild vom Monster, das uns in Burnout und Herzinfarkt jagt, ist ins Wanken geraten. Längst liefern Tier- und Menschenstudien zahlreiche Belege dafür, dass eine gewisse Dosis Stress womöglich sogar Voraussetzung dafür ist, dass wir stärker werden, lernen und wachsen können. Im besten Fall über uns selbst hinaus.

Wie wir Stress für uns nutzen, erforscht die Gesundheitspsychologin Kelly McGonigal von der Stanford University. In ihren Vorlesungen erläutert die 39-Jährige, wie es gelingen kann, Stress zu einem "Freund fürs Leben" zu machen. 2013 sprach sie auf einer Konferenz in Edinburgh, wo internationale Vordenker aus Forschung, Kultur und Wirtschaft ihre Ideen präsentierten. Ihr 15-minütiger "Talk" riss das Publikum von den Sitzen, das Internetvideo des Auftritts wurde über zwölf Millionen Mal geklickt.

McGonigals Buch The Upside of Stress", zu Deutsch "Der Vorteil von Stress", beginnt mit der provokanten These, dass es prinzipiell jedem möglich ist, sich für folgende Sicht zu entscheiden: "Stress ist hilfreich und sollte akzeptiert, genutzt und umarmt werden." Ein Satz, den in ähnlicher Art auch Buddhisten oder Radrennfahrer leben: "Umarme den Schmerz" - weiche deiner Pein nicht aus, sondern begib dich hinein, versuche, ihr Gutes abzutrotzen - selbst dem tiefen Tal nach dem Verlust eines Freundes, den Qualen am Col du Tourmalet oder den nervigen Tagen, an denen alles schiefgeht.

Auch Gerd Niebuhr verkniff sich das Jammern und organisierte mit seiner Frau die Arbeit komplett neu: "Ich bin der Typ, der bei Stress gleich loslegt und die Dinge angeht. Es hilft ja nichts." Sie engagierten einen zuverlässigen Gesellen, der ihn vertrat. "Ab und zu habe ich mir einen Stuhl auf die Baustelle gestellt und den Kollegen mit Ratschlägen unterstützt. Und es lief."

Wie überhaupt so vieles bei den Niebuhrs läuft. Erstaunlich rund sogar. Beide Eltern sind voll berufstätig, Gerd hat zwei fast erwachsene Töchter. Elke hat einen 18-jährigen Sohn aus erster Ehe und pflegt ihre Mutter. In der Küche des restaurierten Fachwerkhofs bullert ein Holzofen neben einer Hightech-Küchenmaschine. Hier wird viel und gut gekocht. Ständig ist das Haus voller Besuch. Im Herbst steht Gerd Niebuhr am Schwenkgrill und köchelt Rehgulasch "Windsor" für 20 Personen. Doch bei aller Geschäftigkeit wirkt keiner angespannt. Als würden die Niebuhrs auch den Stress in ihr Haus einladen - wie einen Gast, der mal nervt, aber herzlich in den Arm genommen wird.
Gerd Niebuhr
© Isadora Tast, Dieter Braun (Illustration)Gerd Niebuhr, 53, Zimmerer, 3 Kinder, wohnt in Lüchow:

"Ich habe immer gern gearbeitet, aber mein Job in der Kugellagerfabrik hat mich nicht ausgefüllt. Mit 30 habe ich gekündigt und mich zum Zimmerer ausbilden lassen. Heute bin ich oft zwölf Stunden auf der Baustelle, aber mein eigener Chef. Die meiste Energie tanke ich bei Familie und Freunden. Und ich ziehe meinen Sport durch, selbst wenn viel zu tun ist: Sonntags fahre ich mit dem Rennrad durchs Wendland, manchmal 200 Kilometer, dreimal pro Woche trainiere ich im Fitnessstudio. Da verarbeite ich auch mal meinen Ärger an der Maschine. Oder ich lasse die Gedanken schweifen."
Aber kann man diese Haltung lernen? Fällt nicht jedem von uns sofort jemand ein, der durch Überforderung krank geworden ist? In der Tat gilt Medizinern ein Zusammenhang zwischen massiven Belastungen und Depression, Bluthochdruck oder Herzinfarkt als sicher. Allerdings mehren sich die Anzeichen, dass nicht jeder Stress schädlich ist. Und dass es nicht immer der Stress selbst ist, der krank macht, sondern oft unser Umgang damit.

Stress gehört zum Leben. Ein Dasein ohne ihn ist nicht möglich, weder für Bakterien noch für Pflanzen, Tiere oder Menschen. Wissenschaftler unterscheiden zwischen einem Stressor, dem Auslöser von Stress, und der Reaktion darauf. Stressoren sind alle Einflüsse, die Lebewesen aus ihrer biologischen Komfortzone drängen: Käferfraß setzt Pflanzen zu, Kälte, Schlafentzug, Hunger und Schmerz belasten Tier und Mensch. Hinzu kommen psychische Faktoren wie Hektik, Streit, Geldnot oder Gewalt.

Bereit für den Säbelzahntiger

Auf all das folgt die Stressantwort, eine Art Konzert aus elektrischen Impulsen und chemischen Signalen in Hirn und Nervenfasern: Reize, die wir über Augen, Ohren, Haut, Nase oder Mund aufnehmen, werden in Sekundenbruchteilen im Gehirn gefiltert, bewertet und von der Amygdala, dem Mandelkern, mit Emotionen wie Angst aufgeladen. Wir wären jetzt bereit für den Kampf mit dem Säbelzahntiger.

Wie sich extremer Stress anfühlt, hat Anke Odrig schon oft erlebt. Als Gründerin von Little Bird, einem bundesweiten Portal für Kitaplätze, hat sie ihr Unternehmen durch Höhen und Tiefen geführt. Nachdem die erste Million Startkapital aufgezehrt war und zehn Mitarbeiter bezahlt werden mussten, hat sie das nächtliche Herzrasen kennengelernt. Die Angst, mit Mann und vier Kindern in die Insolvenz zu gehen.
Anke Odrig
© Isadora Tast, Dieter Braun (Illustration)Anke Odrig, 41, Unternehmerin, 4 Kinder, wohnt in Berlin:

"Ich war Software-Beraterin für Firmen und jettete durch die Welt. Dann wurde ich unverhofft schwanger, mein Mann und ich trennten uns in der Elternzeit. Meinen alten Job konnte ich alleinerziehend nicht mehr machen. Ich löste den Vertrag auf und investierte die Abfindung in einen Traum: ein Portal zur Vermittlung von Kitaplätzen. Natürlich hatte ich Angst, dass es schiefgeht. Aber ich bin gesprungen. Heute führen mein zweiter Mann und ich die Firma gemeinsam und haben zusammen vier Söhne. Ich glaube fest, dass man in Krisen zu Hochform auflaufen kann."
Dann kam die Wut, als die Umsätze sprudelten, die Bank aber den dringend benötigten Investitionskredit verweigerte. Und auch heute spürt sie manchmal dieses fiese Kribbeln im Bauch, wenn sie sich vor den Kommunen, ihren Kunden, rechtfertigen muss. "Dann schlafe ich schon mal zwei Nächte schlecht", sagt sie, "letztes Jahr sollten wir ein großes Software-Update bekommen, aber das Programm war nicht rechtzeitig fertig. Ich musste herumreisen und unangenehme Gespräche führen. Davor hatte ich jedes Mal ein flaues Gefühl im Magen wie vor Prüfungen." Inzwischen beschäftigt sie mehr als 30 Mitarbeiter, das Geschäft läuft. Anke Odrig ist gelassener geworden - und sie hat gelernt, sich dem Kribbeln zu entziehen. Bei wichtigen Terminen hilft ihr ein Ritual. "Ich trage Weiß, einen weißen Anzug, ein helles Kostüm. Dann habe ich das Gefühl, ich bin unantastbar. Das ist meine persönliche Ritterrüstung."

Die Fähigkeit von Lebewesen, auf Stress zu reagieren, gilt heute als Schutz, gar als Voraussetzung für alles Leben - von der Mikrobe bis zum Menschen. Immerhin haben wir mit dem Bakterium E.coli die Hälfte der Aminosäuren gemein, aus denen unsere Stressproteine bestehen. Den Begriff "Stress" schuf in den 1930ern der aus Ungarn stammende Arzt Hans Selye. Er piesackte Ratten mit Injektionen, jagte sie ins Laufrad, malträtierte sie mit Kälte oder Hitze. In nur 48 Stunden erschlafften ihre Muskeln, das Immunsystem versagte, und sie starben. Aus seinen Experimenten zog Selye das Fazit, dass alle höheren Organismen ähnlichen "Stress" erlitten und dabei schnell Schaden nähmen. Wir also auch?

Heute weiß man: Nein. Das müssen wir nicht. Wenn der Körper kurzzeitig Adrenalin und Cortisol ausschüttet, der Blutzuckerspiegel steigt und das Herz rast, ist dies erst mal nur eine Reaktion, durch die der Körper Kraftreserven mobilisiert. "Seit er die Welt betrat, hat der Homo sapiens über 6000 Generationen hinweg von seinen Stressreaktionen profitiert. 200.000 Jahre lang war diese Fähigkeit kein Fortpflanzungsnachteil, sie schützte jene Individuen, die sie besaßen - und daher auch vererben konnten", schreibt der Journalist Urs Willmann in seinem Buch Stress - Ein Lebensmittel und mutmaßt, dass uns die Fähigkeit zur Stressreaktion noch lange erhalten bleiben wird. Weil wir sie brauchen.

Auch für Stress scheint zu gelten: Erst die Dosis macht das Gift. "Zeitlich und von der Intensität her begrenzter Stress ist nicht notwendigerweise schlecht", sagt Christoph Englert, Professor für molekulare Genetik an der Uni Jena. Englert erforscht am Leibniz-Institut für Alternsforschung - Fritz- Lipmann-Institut den Einfluss von Stress durch Zellgifte auf das Leben von Fischen. "Wir haben Prachtgrundkärpflingen Rotenon verabreicht, einen Stoff, der den Sauerstoffumsatz in den Mitochondrien hemmt, den winzigen Kraftwerken der Zellen." Niedrig dosiert veränderte Rotenon bei den Fischen die Aktivität vieler Gene, sodass die Tiere regelrecht verjüngt wirkten. Im Schnitt lebten die "vergifteten" Tiere zehn Tage länger als die unbehandelten.

Wahrscheinlich beruhen sogar die Gesundheitseffekte von Sport letztlich auf einer Giftwirkung: "Sport führt zu mehr Sauerstoffumsatz in den Mitochondrien. Dann fallen dort mehr aggressive Sauerstoffradikale an, was wiederum die körpereigenen Entgiftungssysteme aktiviert", so Englert.

Solche anregenden Effekte bezeichnen Forscher als "Hormesis", griechisch für "Anstoß". Der Biologe und Wissenschaftsautor Richard Friebe hat dem Phänomen ein Buch gewidmet, in dem er zahllose Forschungsergebnisse aufzählt, wie Störungen und Reize Mensch, Tier und Pflanze erst aus der Bahn werfen, letztlich aber stärker machen. Kälte und Wärme, radioaktive Strahlung, Hunger, Gifte und Stress lösen eine molekulare Reaktion im Körper aus, die häufig sogar mehr Abwehrstoffe mobilisiert als nötig. Der Überschuss steht zur Stärkung des Organismus zur Verfügung, der nun besser gewappnet und trainiert ist.

Wie Stress auch das Lernen beflügelt, erforscht Lars Schwabe, Professor für Kognitionspsychologie an der Universität Hamburg: "Wir konnten zeigen, dass Stress das Gehirn dazu bringt, Dinge in vereinfachter Form abzuspeichern und in eine Art ‚quick and dirty‘-Modus zu schalten." Allerdings werden wir bei dieser schmutzigen Form des Lernens keine Genies. "Unter Stress speichern wir effizient, aber unflexibel. Wir haben dann zum Beispiel später Probleme, neues Wissen darauf aufzubauen", so Schwabe. Erregung verbessert die Gedächtnisleistung zudem nur dann, wenn es der Lernstoff selbst ist, der uns berührt. Daher könne es laut Schwabe sinnvoll sein, Lerninhalte emotional "aufzuladen", etwa indem man Studenten Lehrfilme zeigt, die viel mit ihrem persönlichen Erleben zu tun haben.

Sich dauerhaft zu viel zuzumuten ist allerdings kontraproduktiv. Wird der Stress chronisch oder unerträglich, reduzieren sich die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen im Hippocampus, dem Gedächtniszentrum des Gehirns. Um das auszugleichen, brauchen wir Entspannung. Schwabe erklärt: "Wenn man zur Ruhe kommt oder das Gehirn andere Reize erlebt, können Neuronen sich neu verästeln. Schlaf ist dabei extrem wichtig und Bewegung, weil sie die Cortisolausschüttung bremst."

Eine Rüstung gegen Stress

Aber warum erscheint ein Gerd Niebuhr aller Unbill und allem Stress gewachsen, während andere bereits an der täglichen Parkplatzsuche verzweifeln? Liegt das nur an Sport und Schlaf? Mediziner und Psychologen forschen schon länger nach den Gründen, warum manche Menschen durchs Leben gehen, als trügen sie eine unsichtbare Rüstung. Tatsächlich scheinen ungünstige Gene oder Vernachlässigung in der Kindheit die Weichen dafür zu stellen, ob man später mit einem hohen Stresshormonspiegel zu kämpfen hat. Doch bis zu einem gewissen Grad haben wir es auch als Erwachsene noch in der Hand, wie uns Stress zusetzt. Durch den Lebensstil und die Lebenseinstellung können wir sogar die Arbeit unserer Gene beeinflussen. Dieses Können ist möglicherweise auch der Grund dafür, warum nicht nur Gemüseesser länger leben, sondern auch Optimisten. "Wie Sie über Stress denken, kann Ihre Biochemie verändern - und letztlich auch, wie Sie auf das reagieren, was den Stress ausgelöst hat", resümiert Kelly McGonigal, die in ihrem Buch kleine Übungen beschreibt, um Stress positiver wahrzunehmen oder gar für sich zu nutzen.

Wie stark das Bild vom Stress unmittelbar die Reaktion unseres Körpers bestimmt, belegte die Psychologin Alia Crum. Sie führte an der New Yorker Columbia-Universität Probanden ein dreiminütiges Video vor: Einer Gruppe wurde dabei die Botschaft "Stress macht krank" vermittelt, der anderen "Stress macht stark". Dann wurden die Teilnehmer in ein unfreundliches Vorstellungsgespräch geschickt. Bei allen jagte die Situation den Cortisolspiegel hoch. Doch nur bei denen, die den positiven Film gesehen hatten, war auch der Wert eines zweiten Hormons erhöht. Sein Name: Dehydroepiandrosteron. Es gilt als eine Art Wachstumsförderer für Gehirnzellen und scheint vor Stresskrankheiten wie Depression oder Herzleiden zu schützen. Die veränderte Einstellung zu Stress nach nur drei Minuten Fernsehen hatte bei den Probanden eine gesündere Reaktion ausgelöst.

Psychologen führen eine solche Wirkung auf "Mindset-Effekte" zurück. Mindsets sind Denkmuster, die auf grundlegenden Annahmen über das Wesen der Welt basieren: "Mein Schicksal ist vorbestimmt", "Geld regiert die Welt" - oder eben "Stress bringt mich voran". Die Wirkung solcher Mindsets auf die Hirnchemie vergleichen Experten mit der einer starken Placebopille.

Das Mindset von Martina Großmann könnte lauten: "Carpe Diem" - Pflücke den Tag. Die Mutter von Zwillingen arbeitet als selbstständige IT-Managerin. Das Wort Stress mag sie nicht. "Ich finde es für mich passender zu sagen: Ich habe zu tun. Mein Alltag ist nicht immer locker, aber ich bin gern beschäftigt."

An einem typischen Mittwoch zum Beispiel klingelt um sechs der Wecker, dann werden Frühstücksdosen und Kita-Rucksäcke für Tim und Henry gepackt, das Frühstück kommt auf den Tisch, der Nachwuchs ins Bad. Zwischendurch ruft sie ihrem Mann zu, welche Socken zum Anzug passen. Wenn sie ihre drei Männer auf die Straße gebracht hat, fährt sie von dem niedersächsischen Örtchen Maschen durch den Elbtunnel nach Hamburg, im besten Fall braucht sie 45 Minuten. Der Tag ist mit Meetings gepflastert, für die Mittagspause bleiben 20 Minuten. Nachmittags holt sie die Jungs vom Kindergarten ab und fährt sie zum Turnen, geht einkaufen, steckt die Kinder vor dem Abendbrot in die Wanne und bringt sie ins Bett.

Im letzten Herbst hätte sie fast einmal Zeit für sich gehabt. Doch da besuchte sie die benachbarte Flüchtlingsunterkunft, "um kurz Hallo zu sagen". Inzwischen hat sie für das Heim zwei Großküchen ausgestattet und Dutzende gebrauchter Computer und Fernseher organisiert.

Ist ein solches Leben nun verrückt - oder gerade richtig? Es ist jedenfalls ein Leben, das nicht nur mit Terminen, sondern auch mit Sinn gefüllt ist.

Wissenschaftler sind sich heute darin einig, dass ein Alltag ohne Ereignisse unglücklicher machen kann als ein Alltag mit einer Fülle an Aufgaben. "Gerade Arbeitslose haben oft großen Stress, weil sie sich einsam oder wertlos fühlen", sagt Manfred Beutel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Mainzer Uniklinik. Mit seiner Arbeitsgruppe veröffentlichte er kürzlich Daten zum Phänomen der Prokrastination. Solche "Aufschieberitis" ist demnach mit einem hohen Risiko für Stress, Depression oder Erschöpfung assoziiert. "Es erzeugt zwar erst mal positive Stimmung, wenn man sich Unangenehmes wie die Steuererklärung vom Hals hält. Aber langfristig häufen sich Misserfolgserlebnisse: Man muss mehr Geld ans Finanzamt zahlen, man kriegt die Bachelorarbeit nicht fertig", sagt Beutel. "Wir haben aber ein tiefes Bedürfnis, uns selbst als kompetent und effizient zu erleben. Letztlich speist sich unser Selbstvertrauen aus Erfolgen und Situationen, die wir gemeistert haben."

Es könnte sich also tatsächlich lohnen, das Monster Stress ab und zu mal zu umarmen.

Unterstützung bei der Recherche: Katharina Zingerle