Zeitspirale
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Physiker haben bekanntlich ein Problem mit der Zeit. Ob Newtons Gravitationslehre, die Maxwell-Gleichungen, Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik, all diese Theorien, welche die Funktionen unseres Universums beschreiben, können wunderbar in zwei Richtungen der Zeit angewandt werden.

Die Welt, die wir erleben, ist eine ganz andere. Das Universum expandiert und zieht sich nicht zusammen. Sterne emittieren Licht anstatt es aufzunehmen. Radioaktive Atome zerfallen und bauen sich nicht wieder neu zusammen. Ein Omelett wird niemals wieder zum Ei. Wir erinnern uns an die Vergangenheit, nicht an die Zukunft und werden eines Tages alt, nicht jung. Für uns hat die Zeit also eine ganz klare und irreversible Richtung. Sie bewegt sich vorwärts, in Richtung Zukunft, ganz egal, was irgendwelche Gleichungen sagen mögen.

Wie aber wird darüber entschieden, welche Richtung die Zeit hat und worauf begründen sich diese Annahmen? Werfen wir einen Blick in die Wissenschaft.

Die Entstehung der Zeit

Über viele Jahrzehnte hinweg wurde die Vorwärts-Richtung der Zeit mithilfe der Thermodynamik begründet und durch den österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann in seiner Arbeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts festgehalten. Dieser Ansicht nach ist das, was wir den Zeitpfeil nennen, lediglich das Ergebnis eines unaufhaltsamen Prozesses, bei welchem ein Status höchster Ordnung in einen Status geringerer Ordnung übergeht und einen Gleichgewichtszustand anstrebt. Den Begriff »Zeitpfeil« begründete der Astrophysiker Arthur Eddington im Jahre 1927 und definierte damit ein Symbol, welches die Richtung der Zeit anzeigen sollte.

Informell gesprochen steckt hinter der Begründung durch die Thermodynamik der Gedanke, dass „die Dinge auseinanderfallen“. Etwas formeller gesprochen, beschreibt diese Theorie die Konsequenzen des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, bei dessen Entstehung auch Boltzmann beteiligt war. Dieser besagt, in jedem geschlossenen System (und unser Universum ist so ein geschlossenes System) nimmt die Entropie, also das Maß an »Unordnung«, stetig zu. Die Zunahme der Entropie ist eine kosmische Gewissheit, denn statistisch betrachtet existieren weitaus mehr Zustände der Unordnung als Zustände der Ordnung. Bildlich könnte man sich vorstellen, wieviele verschiedene Versionen existieren, in denen Zettel auf einem Tisch unordentlich verteilt werden könnten und wie wenige Möglichkeiten es gibt, sie schön ordentlich auf einem Stapel auf dem Tisch zu platzieren.

Wenn der Theorie also gefolgt wird, die Begründung des Zeitpfeils liege in der Thermodynamik, entstand unser Universum in einem Zustand allerhöchster Ordnung und sehr geringer Entropie (also einem sehr geringen Maß an Unordnung) und strebe nach einem Zustand höherer Entropie (also einem hohen Maß an Unordnung). Seitdem setzen sich Wissenschaftler weltweit mit dieser Theorie auseinander und überprüfen, ob sie gerechtfertigt ist oder doch widerlegt werden kann.

Warum aber gab es diesen ursprünglichen Zustand höchster Ordnung zu Beginn unseres Zeitpfeiles überhaupt? Hier ist Boltzmann der Meinung gewesen, die Unendlichkeit würde diesen Zustand erklären. Denn wenn ausreichend Zeit zur Verfügung steht, nämlich unendlich viel Zeit, dann wird alles, was passieren kann, auch passieren. Das bedeutet auch, dass statistisch sehr unwahrscheinliche Zustände irgendwann auftreten müssen - wie beispielsweise das Erreichen eines Zustandes höchster Ordnung. Dieser wird sich anschließend wieder in einen Zustand geringerer Ordnung bewegen und irgendwann einen Gleichgewichtszustand erreichen. Boltzmann sinnierte, ob wir uns nicht einfach gerade in genau solch einer Phase befinden.

Die Inflation soll der Zeit eine Richtung geben

Heute stehen die Kosmologen immer noch vor einem großen Problem. Sie gehen der Frage nach, warum dieser Zeitpfeil überhaupt eine Richtung hat und ob tatsächlich die Entropie die treibende Kraft der Änderung der Zeit ist. Es liegt nun an ihnen, Boltzmanns Theorie in diesen Hinsichten zu optimieren. Viele moderne Theorien berufen sich dabei auf die „kosmologische Inflation“. Ihr zufolge expandiert das Universum aufgrund der Existenz eines sogenannten Inflatonfeldes, ein skalares Feld mit negativem Druck. Der allgemeinen Relativitätstheorie nach bildet solch ein Feld eine abstoßende Kraft und führt damit zur Ausdehnung des Universums. Doch auch der Inflationstheorie bedarf es einiger Optimierungen. Ein Problem dieser Theorie ist die Tatsache, dass die Inflation ewig andauern würde.

Aus diesen Gründen sind einige Wissenschaftler, die dem Zeitpfeil auf den Grund gehen, mit der Theorie der Inflation nicht zufrieden. „Momentan gibt es sehr viele Wissenschaftler die versuchen, auf eine natürliche Art und Weise zu erklären, warum die ursprüngliche Entropie des Universums gering gewesen sein muss“, sagt David Albert, ein Philosoph und Physiker der Columbia University. „Einige von ihnen sind sogar der Meinung, man solle die niedrige Entropie zu Beginn des Universums als feststehendes Gesetz in die Physik einführen.“

Die letzte Idee würde bedeuten, dass verzweifelte Wissenschaftler sich nicht mehr weiterzuhelfen wissen und das Handtuch werfen. Doch glücklicherweise gibt es noch andere Möglichkeiten.

Der Wegbereiter der Paralleluniversen

Erste Arbeiten von Julian Barbour von der University of Oxford, Tim Koslowski von der University of New Brunswick und Flavio Mercati vom Perimeter Institute for Theoretical Physics, spielen mit dem Gedanken, dass der Zeitpfeil nicht zwingend einen Zustand geringer Entropie als Voraussetzung benötigt, sondern viel mehr ein notwendiges Produkt der grundlegenden Gesetze der Physik ist. Barbour und seine Kollegen sind der Meinung, die Erklärung der Zeit sei viel mehr in der Gravitationslehre zu finden, als in der Thermodynamik, und distanzieren sich damit von der Fixierung auf die Entropie.

Um auf diese Ergebnisse zu kommen, entwarfen die Wissenschaftler eine Computersimulation mit 1.000 punktförmigen Partikeln, die sich alle unter dem Einfluss von Newtons Gravitationstheorie bewegten. Sie untersuchten das dynamische Verhalten der Partikel, indem sie die »Komplexität« des Systems maßen, also das Verhältnis zwischen den Partikeln, die sich am nächsten liegen, und jenen, die am weitesten voneinander entfernt sind. Die Komplexität des Systems ist am niedrigsten, wenn alle Partikel zu einer dichten Wolke zusammen finden. Dann herrscht ein Zustand der geringsten Größe und größten Gleichförmigkeit - äquivalent zu dem Zustand des Urknalls. Den Untersuchungen zufolge würde sich jede Partikelkonfiguration, unabhängig von ihrer Anzahl und ihrer Größe, zu diesem Zustand der geringen Komplexität hin entwickeln. Die Schwerkraft jedoch ist die treibende Kraft, die dieses System wieder auseinander treibt - und das System somit zum Expandieren bringt.

Von diesem Zustand der geringen Komplexität expandieren die Partikel in beide zeitlichen Richtungen, wodurch zwei symmetrische und einander entgegengesetzte Zeitpfeile entstehen. Entlang beider Pfeile formt die Gravitation die Partikel zu größeren, komplexeren Strukturen - Strukturen die äquivalent sind zu unseren Galaxien und Planetensystemen. Auf dieser Grundlage kann sich die bereits bekannte Theorie der Zeit, die aus der Thermodynamik herrührt, auf beiden Pfaden manifestieren und entfalten.

Wir könnten in der Vergangenheit eines anderen Universums leben

In anderen Worten: dieses Modell besitzt eine Vergangenheit, aber zwei Zukünfte. Wie durch die zeitunabhängigen Gesetze der Physik angedeutet wird, kann sich der Zeitpfeil in zwei Richtungen bewegen, auch wenn ein einzelner Beobachter immer nur eine wahrnehmen kann. „Alles verteilt sich auf zwei Zeiträume die sich für immer in zwei Richtungen fortbewegen“, sagt Mercati.

Auch wenn dieses Modell noch nicht ganz ausgereift ist und beispielsweise weder die Quantenmechanik noch die allgemeine Relativitätstheorie mit einbezieht, ist ihr Potential enorm. Denn wenn diese Theorie für unser Universum gilt, dann wäre der Urknall nicht, wie bisher immer angenommen, der Ursprung unseres Universum, sondern viel mehr eine Phase in einem effektiv zeitlosen und unendlichen Universum. Etwas nüchterner betrachtet würde ein solches zwei-Pfeil-System zu interessanten Unstimmigkeiten zwischen Beobachtern auf beiden Seiten führen. „Das zwei-Zukünfte-Szenario würde eine einzige Vergangenheit beweisen und gleichzeitig die Existenz zweier Universen bedeuten“, erklärt Barbour. „Dann könnten beide Seiten des Universums Beobachter hervorbringen, welche die Zeit wahrnehmen könnten - und sie würde die Zeit in jeweils entgegengesetzter Richtung wahrnehmen. Jedes intelligente Wesen würde seinen Zeitpfeil dann als vorwärts gerichtet definieren, da er sich von ihm aus gesehen vom ursprünglichen Zustand weg bewegt.“ Demnach bestünde die Möglichkeit, dass wir in der Vergangenheit anderer intelligenter Wesen leben.

Es ist nicht die erste zwei-Zukünfte Theorie. Im Jahre 2004 entwickelten Sean Caroll und Jennifer Chen vom California Institute of Technology ihr eigenes bemerkenswertes Modell. Das Modell sollte die geringe Entropie zu Beginn des Zeitpfeils in Hinblick auf die kosmologische Inflation und die Entstehung von Baby-Universen erklären. Für sie liegt der Schwerpunkt der Entstehung des Zeitpfeils weniger in der Tatsache, dass zunächst eine geringe Entropie existierte, sondern viel mehr in der darauf folgenden hohen Entropie in beiden Zukünften, die durch die Entstehung vieler kleiner Baby-Universen bedingt ist.

Oder wird das Chaos doch unendlich groß?

Ein Jahrzehnt später ist Caroll vernarrt in die Ansicht, dass einzig eine zunehmende Entropie die Quelle des Zeitpfeils wäre und keine anderen Einflüsse wie beispielsweise die Gravitationslehre, existierten. Caroll folgt der klassischen Meinung: „Die einzige Tatsache, welche die Vergangenheit von der Zukunft unterscheidet, ist das Maß an Entropie. Dieses Paper von Barbour, Koslowski und Mercati ist sicherlich sehr gut, denn sie rollen ihre Ärmel hoch und führen die speziellen Berechnungen aus, die es für ihr Gravitationsmodell braucht, aber ich denke nicht, dass dieses Modell von allzu großem Interesse ist. Ich denke, dass dieses allgemeine Partikelverhalten, dass in ihrem Modell beschrieben wird, prinzipiell schon richtig ist, sofern eine finite Anzahl an Partikeln betrachtet wird. Aber die viel größere Frage die dahinter steht - ist diese Annahme für unser Universum überhaupt wahr? Diese Frage zu beantworten ist die eigentlich schwere Aufgabe.“

Gemeinsam mit Alan Guth vom Massachusetts Institute of Technology, arbeitet Caroll an einer thermodynamischen Antwort auf den gravitationstheoretischen Ansatz der den Zeitpfeil erklären soll: Nämlich ein weiteres, sehr simples Modell des Universums, aus welchem ein Zeitpfeil entstehen kann, allerdings völlig ohne die Anwendung von Gravitation oder anderen Kräften. Die Annahme, welche die Wissenschaftler hier treffen, ist die Fähigkeit des Universums, eine unlimitierte Menge an Entropie zu entwickeln.

„Wenn wir annehmen, dass die Entropie in unserem Universum kein Maximum annehmen kann, dann kann jeder Zustand ein Zustand geringer Entropie sein“, sagt Guth. „Das mag vielleicht dämlich klingen, aber ich glaube, dass es wirklich funktioniert. Wenn es kein Limit gibt und die Entropie immer größer werden kann, kann an jedem Zeitpunkt begonnen werden - und von jedem beliebigen Zeitpunkt aus wird die Entropie zunehmen.“

Die Debatte um den Zeitpfeil ist, seit den Ideen von Boltzmann im 19. Jahrhundert, bereits weit gekommen. Doch im Kern, so sagt Barbour, sei sie zeitlos. „Wir haben einen ganz neuen Aspekte von Newtons Gravitationstheorie untersucht, der zuvor nie beachtet wurde. Wer weiß, was für Auswirkungen all unsere aktuelle Forschung wohl auf unsere zukünftigen Weltanschauungen haben wird?“

Universum Expansion
© Busyness Insider / NASA